Zionismus
Lexikon der Anarchie: Sachthemen
Zionismus
Dieser Beitrag über Zionismus gibt einen Überblick über die Ansichten der Anarchisten zum Nationalismus und erörtert die verschiedenen Antworten von jüdischen und nichtjüdischen Anarchisten hinsichtlich der Fragen, die die jüdische nationale Identität, jüdische politische Souveränität und den Zionismus betreffen.
"Judenfrage" und Internationalismus
Die meisten jüdischen Radikalen glaubten, dass die soziale Revolution die Probleme der Massen der ganzen Welt, ebenso die spezifischen Probleme der Juden, unabhängig vom nationalen Kontext, lösen würde. Viele akzeptierten sogar Karl Marx' feindselige Analyse der „Judenfrage“ in seinem Werk „Zur Judenfrage“ (1844), in dem er behauptet, dass die Juden, die er als eine „Kaste“ definierte, ultimativ mit dem Zusammenbruch des Kapitalismus verschwinden würden.
Der Glaube vieler Juden an den Internationalismus wurde teilweise erschüttert durch antisemitische Ausbrüche wie die Pogrome in Rußland 1881/82, die Dreyfus-Affäre von 1896 oder das Kishinev-Pogrom von 1903. Die Enttäuschung, die diesen Ereignissen folgte, veranlasste viele jüdische Radikale, die Gültigkeit ihrer kosmopolitischen Orientierung in Frage zu stellen, da sie plötzlich realisierten, dass eine sozialistische oder anarchistische Ideologie die Probleme der Juden nicht in zufriedenstellender Weise würde lösen können. Als eine Konsequenz daraus wurden Versuche unternommen, neue Wege zu finden, um ihren Radikalismus mit einem wachsenden Gefühl nationaler Identität zu verbinden.
Es ist möglich, drei verschiedene anarchistische Herangehensweisen an den Nationalismus zu unterscheiden: Die erste ist die klassische anarchistische Doktrin, wie sie von Pierre-Joeseph Proudhon und Michail Bakunin entwickelt wurden. Entsprechend dieser Herangehensweise sollten Anarchisten aller nationalen Loyalität entsagen und danach streben, ein gesellschaftliches Universum ohne Nationen zu schaffen. Auch Rudolf Rocker ist zu diesem klassischen anarchistischen Trend zu zählen. Jedoch zeigt seine Position bestimmte Abweichungen, wie begrenzter kultureller Ausdruck, der in nationalen Traditionen eingebunden ist.
Die zweite Herangehensweise ist die der stufenweisen Annäherung. Entsprechend ihren Vertretern, hauptsächlich Peter Kropotkin und seinen Anhängern, dienen Nationalismus und Internationalismus verschiedenen Zwecken zu verschiedenen Zeiten in der historischen Entwicklung zu einer idealen sozialen Ordnung. Nationalismus wurde als eine notwendige Kraft in dem Befreiungsprozess eines Volkes von fremder Vorherrschaft betrachtet. Dann, nachdem die nationale Unabhängigkeit erreicht ist, kann das Volk seine Kräfte kanalisieren und für eine neue Weltordnung, entsprechend internationalistischen Prinzipien, kämpfen.
Die dritte Herangehensweise, hauptsächlich vertreten von jüdischen Anarchisten wie Bernard Lazare und Dr. Hillel Solotaroff, ist der Versuch, mit allen Aspekten des Nationalismus vertraut zu werden. Diese Herangehensweise, die als eine Antwort des jüdischen Problems, eingedenk der Kraft des Nationalismus und der Unzulänglichkeit des Kampfes dagegen formuliert wurde, erzeugte den Bruch mit den anarchistischen Prinzipien.
P.-J. Proudhon glaubte, dass die „lautesten“ Vertreter des Nationalismus in Wirklichkeit bloße Opportunisten seien, die die nationalistische Thematik als ein Mittel zum Ausweichen vor der ökonomischen und sozialen Revolution benutzten. M. Bakunin betrachtete Nationalismus als ein Instrument, durch das die Vorrechte und Ambitionen der Staatsmacht hinter einer Fassade historischer Legitimität versteckt werden. Er lehnte die universelle Basis des Nationalismus ab und bezeichnete ihn als ein spezifisches Phänomen, entworfen, um alle Versuche der Menschheit sich zu vereinigen, zu vereiteln. Die Haltung von P.-J. Proudhon und M. Bakunin zu jüdischen Anarchisten und zur „jüdischen Frage“ reichte von Bevormundung bis zu unverhülltem Antisemitismus. P.-J. Proudhon meinte, dass die Juden eine Rasse darstellten, die weder in der Lage sei, einen Staat zu gründen noch sich selbst zu regieren und er schlug vor, sie sollten zurück nach Asien gesandt oder vernichtet werden. M. Bakunin wählte seine Worte nicht sorgfältiger. Juden, so meinte er, seien eine ausbeutende Sekte, eine Nation von Parasiten, die nicht reif für den Sozialismus und nicht geeignet sind, die sozialistische Bewegung zu führen.
P. Kropotkin war der erste anarchistische Philosoph, der sich mit dem jüdischen nationalen Problem ohne jedes rassistische Vorurteil auseinander setzte. Er lehnte die Idee eines jüdischen Staates ab und besonders die Vorstellung, dass die jüdische nationale Souveränität in Palästina wiedererstehen könnte. Als Geograph hob P. Kropotkin besonders hervor, dass die klimatischen Gegebenheiten die Aussicht einer Ansiedlung in Palästina unmöglich machen würden, da die geoklimatischen Bedingungen es sehr schwer machen, Zugang zu Wasser zu finden. Sogar P. Kropotkin war nicht völlig frei von dem Mythos unveränderter nationaler Charakteristiken, wie es unter den Anthropologen und Sozialphilosophen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts Mode war. Erstens bemerkte er, dass eine erfolgreiche Ansiedlung nur durch Menschen erreicht werden kann, die mit der Fähigkeit ausgestattet sind, Land zu bebauen. Eine Fähigkeit, von der er annahm, dass sie den Juden, die über Jahrhunderte vorrangig Stadtbewohner waren und ihren Lebensunterhalt hauptsächlich als selbständige Kaufleute und Künstler verdienten, fehle. Zweitens argumentierte P. Kropotkin, wenn die Juden hätten unbedingt Bauern werden wollen, sie es schon längst hätten sein können und zwar durch Errichtung von Kolonien in anderen Teilen der Welt, solche wie z.B. in Südamerika, wo Baron Hirsch versuchte, jüdische Bauerngemeinden zu gründen. Und schließlich erkannte P. Kropotkin, dass die Schaffung eines jüdischen Staates die Massenumsiedlung von Menschen von einem Ort zum anderen und einen Prozess der Wiederherstellung und des Aufbaus von unvorstellbarer Größe erforderlich machen würde.
P. Kropotkins Haupteinwand gegen die Etablierung einer nationalen Identität, abgesehen von dem des physischen Hindernisses, entstand aus seiner Überzeugung, dass der Zionismus in der Tat eher eine Idee, entstanden aus religiösen Prinzipien, als eine säkulare nationale Befreiungsbewegung sei. In seiner Analyse des Nationalismus trug P. Kropotkin der Rolle nationaler Befreiungsbewegungen Rechnung, die er als eine positive Kraft im Prozess der Zerstörung der kapitalistischen Gesellschaft betrachtete. Nationen, die für ihre nationale Befreiung kämpfen, können sich nicht auf den Weg der sozialen Revolution einlassen, da sie durch den Kampf gegen fremde Herrschaft in Anspruch genommen sind. Die Rolle nationaler Befreiungsbewegungen ist bestimmend für die Revolution, da es in ihr angelegt ist, die Hindernisse, die zwischen den Arbeitern und ihrem erwachenden sozialen Bewusstsein stehen, zu beseitigen. Wiewohl auch der Zionismus, so P. Kropotkin, keine reguläre nationale Bewegung ist, vielmehr wuchs und entwickelte er sich aus den Bestrebungen religiöser Juden, in Palästina einen theokratischen Staat zu errichten. Deshalb meinte P. Kropotkin, dass die Schaffung eines jüdischen Staates nicht nur eine materielle Schwierigkeit, sondern auch vom politischen Standpunkt aus besonders unerwünscht sei, da die Investition von Mitteln und Opfern nur den Absichten und der Belebung anachronistischer Ideen diene.
P. Kropotkins Alternative zum Zionismus war die politische und ökonomische Assimilation der Juden in den jeweiligen Ländern, in denen sie lebten. Jedoch vertrat er keinerlei kulturelle Assimilation. Auch wenn eine Nation keinen eigenen Staat besitze, folge daraus nicht, dass sie ihr nationales Erbe negieren solle. Im Gegenteil, die Entwicklung von Sprache und Kultur sollte als wichtiger Beitrag zum allgemeinen Fortschritt der Humanität betrachtet werden. Er betonte, dass die Juden ihre Kultur und ihre nationale Folklore entwickeln sollten, ähnlich anderer Nationen, ungeachtet des Landes, so wie die Ukrainer, die Böhmen und die Georgier. Dies kann in ihren jeweiligen Ländern geschehen, in denen sie leben, ohne Zuflucht zu geographischen Veränderungen zu nehmen.
Gustav Landauer begann ungefähr 1913, nach der Beilis-Blutschändungsaffäre, in der die russische Regierung versuchte, einen Ritualmordprozess gegen unschuldige Juden aufzuziehen, sich für das jüdische Problem zu interessieren. Sein Interesse an jüdischen Angelegenheiten entstand auch als ein Ergebnis seiner engen Freundschaft mit Martin Buber. G. Landauer betrachtete das Volk als eine spirituelle und kulturelle Einheit, nicht als eine politische und ökonomische Struktur und definitiv nicht als eine biologische Entität, bestimmt durch feste und unwandelbare Blutsbande. Im Gegensatz zu M. Bakunin, der argumentierte, dass Anarchisten sich von den falschen Prinzipien des Nationalismus zu Gunsten eines Universalismus fernhalten sollten, betrachtete G. Landauer jedes Menschen Nationalität als einen wesentlichen Teil seiner Existenz. Außerdem kann ein Individuum durch die Zugehörigkeit zu verschiedenen Völkern viele Loyalitäten unterhalten. Folglich beschrieb sich G. Landauer selbst als „erstens ein Tier, dann als ein Mann, dann als ein Jude, dann als Deutscher, dann als Süddeutschen und schließlich als das besondere Ich“. Jede dieser Kategorien betrachtete G. Landauer als unabhängig und sah keinen Konflikt zwischen seinen hierarchischen Klassifikationen.
G. Landauer nahm an, dass die Juden das Niveau einer Nation erreicht hätten, seit dem er davon überzeugt war, dass die Definition einer Nation weder eine gemeinsame Sprache noch eine geographische Einheit erfordere. Die einzige Einheit, die G. Landauer hervorhob, war die eines gemeinsamen historischen Hintergrundes, den die Juden im Überfluss besaßen. G. Landauer lehnte die Sichtweise ab, dass die jüdische Frage ein besonderes Problem sei, das eine besondere Lösung erfordere. Er war von der anarchistischen Annahme überzeugt, dass die spezifischen Probleme, die die Juden betreffen, zusammen mit anderen sozialen Fragen gelöst werden würden, wenn die Revolution begänne. G. Landauers sozialistischer Universalismus war jedoch weder der Versuch, dem Problem des Antisemitismus auszuweichen, noch in eine Vision von Humanität zu flüchten, in der dann nationale Differenzen verschwinden würden, wie das bei vielen anderen radikalen Juden der Fall war. Er lehnte die Assimilationstendenzen der meisten deutschen Juden ab. Er bestand darauf, dass Juden und Deutsche verschiedene Völker seien, beide ausgestattet mit dem Potential, einzigartige Beiträge zum Erbe der Menschheit zu leisten. Er betonte jedoch, dass das Potential, das besonders von den Juden beigetragen werden könnte, nicht zur Bildung eines anderen Staates kanalisiert werden sollte. Gemäß G. Landauer unterscheidet die Juden vor allem ihre Landlosigkeit von allen anderen Nationen in dem Sinne, dass sie nicht vom Staatskult vergiftet seien. Deshalb wären die Juden mit der historischen Mission betraut, die treibende Kraft hinter dem Aufbau sozialistischer Gemeinden zu werden, unabhängig von jeder Bindung zum Staat. Diese Überzeugung erklärt G. Landauers Feindseligkeit gegenüber der zionistischen Bewegung, von der er meinte, dass sie mehr mit der Gründung eines jüdischen Staates beschäftigt sei, als mit der Kultivierung des besonderen „Rufes, der Humanität zu dienen“, der den Juden der Diaspora anvertraut worden war.
Die negative Haltung, die G. Landauer gegenüber der zionistischen Interpretation jüdischer nationaler Selbstbestimmung zum Ausdruck brachte, wurde von R. Rocker geteilt. Jedoch anders als G. Landauer und P. Kropotkin, für die Zionismus bloß eine theoretische Frage war, hatte R. Rocker während seiner alltäglichen politischen Arbeit mit dem Zionismus unter jüdischen Immigranten im Londoner East End zu tun. R. Rocker hatte ständig gegen die ideologische Mischung von Anarchismus und Zionismus zu kämpfen, die unter den jüdischen Immigranten in London vorherrschend war. Seine Aufgabe war in den Jahren vor dem l. Weltkrieg relativ leicht, als die zionistische Bewegung sich keiner großen Popularität in der jüdischen Arbeiterklasse erfreute. Weiterhin konnte R. Rocker während des I. Weltkrieges auf sein unvergleichliches Charisma bauen. In der Tat konnte keiner der zionistischen Führer in dieser Zeit dem legendären Einfluss R. Rockers bei der jüdischen Bevölkerung Gleichwertiges entgegensetzen. In den folgenden Jahren nach dem Krieg jedoch wurde der relative zahlenmäßige Vorteil der Anarchisten gegenüber den Zionisten geschmälert. Die gemeinsamen Kräfte von Krieg, Kommunismus, jüdischer Orthodoxie und der rasch wachsende Einfluss der Zionisten zerstörten die anarchistische Vormacht bei den jüdischen Arbeitern.
Nationale Souveränität für das jüdische Volk ablehnend, sah R. Rocker einigen Verdienst in den Vorschlägen, die von Ahad Ha-am (Asher Tsvi Ginzberg) gemacht wurden. Dieser vertrat die Etablierung eines kulturellen Zentrums für Juden, das als ein vereinigender Kern jüdischen kulturellen Lebens, verbunden mit geistigen und wissenschaftlichen Vorzügen, dienen sollte. Während R. Rocker mit den Vorstellungen A. Ha-ams über den Ausdruck jüdischen kulturellen Lebens übereinstimmte, wandte er gleichzeitig ein, dass das Zentrum geographisch wohl definiert sein müsse. Geographische Zentralisierung impliziert ein gewisses Maß an politischer Souveränität, die R. Rocker nicht billigte. R. Rocker, der lange genug lebte, um Zeuge der Gründung des Staates Israel zu werden, beklagte, dass die meisten jüdischen Anarchisten, geblendet durch die Versprechungen des Staates, die Lektionen der Geschichte vergessen hätten und naiv glaubten, dass dieser Staat eine Ausnahme bilden würde von der Brutalität der anderen. Er war ebenso besorgt darüber, dass der neue Staat die Fortschritte der Pioniere in den Gemeinschaftssiedlungen, mit denen die Anarchisten sympathisierten, zerstören würde. R. Rocker war überzeugt, dass im Rahmen des Staates die libertäre Natur der Kibbuzim endgültig zusammenbrechen und ihr einzigartiges System zerstört werden würde.
B. Lazare, ein französischer Publizist mit anarchistischen Neigungen, war ein überzeugter Anhänger der Assimilation der Juden, bis die Dreyfus-Affäre seine Überzeugungen erschütterte. B. Lazare glaubte, dass das jüdische nationale Problem entsprechend den orthodoxen anarchistischen Rezepten, die deren universalistische Aspekte hervorhoben, gelöst werden würde. Infolge des Dreyfus-Prozesses realisierte B. Lazare, dass es ausreichte, Religion und Tradition verschwinden zu lassen, um wahrhaft assimiliert zu werden. Diese Erkenntnis veranlasste B. Lazare, an der weit verbreiteten sozialistischen/anarchistischen Annahme zu zweifeln, die soziale Revolution würde das jüdische Problem gemeinsam mit allen anderen sozialen Ungerechtigkeiten lösen. B. Lazare's Lösung für die Juden war, mit dem Versuch aufzuhören, sich innerhalb anderer Nationen zu assimilieren und statt dessen ihren eigenen Sinn für Nationalismus zu entwickeln. Anfänglich war B. Lazare's jüdische Nation ohne ein Zion, ohne konkrete geographische Adresse. Er stimmte mit P. Kropotkin darin überein, dass sich die Juden als eine Nation innerhalb einer Nation entwickeln und sogar einen Staat innerhalb eines Staates bilden könnten; wie G. Landauer, dessen Bestreben die Schaffung einer spirituellen und moralischen Nation und nicht der praktische Akt der Staatsgründung war. Jüdische Nationalität sollte als der Ausdruck des Wunsches frei zu sein, als der Wunsch, ein Maß jüdischer Würde zu erhalten, verstanden werden.
B. Lazare' s eigentümliche Form des Anarcho-Nationalismus wandelte sich stufenweise in eine Form des politischen Zionismus, als er die Notwendigkeit einer territorialen Basis für die Vollendung der jüdischen nationalen Souveränität hervorhob. B. Lazare veränderte das anarchistische Prinzip einer „Nation innerhalb einer Nation“ in eine „Nation unter Nationen“, dadurch erhielt es eine territoriale Dimension. Am 17. Juli 1896 traf B. Lazare Theodor Herzl in Paris und bot ihm seine Hilfe bei der Verbreitung der Botschaft des „Judenstaates“ an. Jedoch wurde von ihm nicht vor 1897 der Wunsch eines physisch konkreten Territoriums für die Juden erwähnt. Aber sogar dann wurde Palästina als Ziel nicht genannt. Es konnte noch immer ein Stück Land sein – irgendwo. Die abschließende Wandlung geschah ein Jahr später, als B. Lazare schließlich Palästina als das in Aussicht genommene Land für die Juden benannte.
Es war jedoch H. Solotaroff, der versuchte, eine neue Synthese zwischen Anarchismus und Zionismus zu schaffen. Er war ein aktives Mitglied der ersten jüdisch-anarchistischen Gruppe in den USA, und der ähnlich wie G. Landauer und B. Lazare, aus seiner kosmopolitischen Weltanschauung durch einen Akt der Barbarei gegen das jüdische Volk erwachte: In einem Artikel, den er nach dem Kishinev-Pogrom von 1903 mit dem Titel „Ernste Fragen“ schrieb, kritisierte er anarchistische Überzeugungen und verursachte eine Spaltung innerhalb der amerikanisch-jüdischen anarchistischen Bewegung. Er führte aus, dass man blind sein müsse, um nicht zu erkennen, dass die Herrschaft des Nationalismus auf der ganzen Welt verbreitet sei. Die Zeit sei für jüdische Anarchisten gekommen, zu entscheiden, wie den Angriffen der Herrschaft des Nationalismus zu begegnen sei und wie die Ideen von anarchistischer Freiheit und Gemeinschaftsleben mit der unausweichlichen Erkenntnis zu verbinden sei, dass nur eine jüdische nationale Entität das jüdische Volk vor physischer Vernichtung retten könne.
Es ist eine anarchistische Doktrin, dass die Teilung der Menschheit in verschiedene Nationen unnatürlich und destruktiv sei. Deshalb sollten Anarchisten daran arbeiten, die internationale Vereinigung voranzutreiben, ungeachtet rassischer und nationaler Unterschiede. Dieses Argument, forderte H. Solotaroff, bedürfe einer gründlichen Überprüfung. Die Ideen des Universalismus und einer vereinigten Zivilisation sind unrealistisch, da sie durch „Gruppen-Uniformität“ und „Gruppen-Variabilität“ charakterisiert sind. Die Menschheit besteht aus vielen solcher Nationen, großen und kleinen, die unterschiedliche soziale Systeme haben und ein einzigartiges nationales Leben führen. Daher ist eine Menschheit ohne Nationen ein unrealistischer Weg. H. Solotaroff argumentierte, dass den anarchistischen Überzeugungen von Internationalismus, Bruderschaft und menschlicher Solidarität eine Dosis Realismus beigemengt werden sollte und, dass die Anarchisten anerkennen müssten, dass sie die steigende Flut des Nationalismus nicht aufhalten könnten. Wer – so H. Solotaroff – den Juden die strikte Einhaltung des internationalistischen Gedankens entsprechend anarchistischen Prinzipien predige, der diene in der Tat als ein Agent ihrer physischen Vernichtung. Die einzig logische Lösung für einen Juden, der sich weder in eine christliche Gesellschaft zu assimilieren wünscht, noch zu dem Lager derjenigen, die die soziale Revolution wie den Messias betrachten, gehören will, ist gezwungen, sein eigenes Nationalgefühl zu akzeptieren. Die jüdische Frage in diesen Zusammenhang gebracht, führt zu dem zwangsläufigen Schluss, dass die Juden nach einer unabhängigen nationalen Existenz in einem eigenen Land streben sollten.
H. Solotaroffs Lösung der jüdischen Frage erlangt einen erkennbaren zionistischen Anstrich durch seine Erklärung, dass ein passender Platz für eine jüdische Heimstätte nur Palästina sei. Jedoch anders als die meisten Zionisten, die Palästina wegen seiner historischen Bedeutung wählten, wählte H. Solotaroff den Ort aufgrund seiner Sicht Palästinas, als ein Land mit einer unterentwickelten Wirtschaft und einer primitiven sozialen Ordnung. Die eiserne Regel der Geschichte, sagte H. Solotaroff, ist, dass ein Volk, dessen soziale und kulturelle Struktur fortgeschrittener ist, das weniger fortgeschrittene Volk absorbiert, sogar dann, wenn das kulturell unterentwickelte Volk militärisch stärker ist. Dieser Regel entspricht besonders die massive Einwanderung aus osteuropäischen Ländern in den Westen. Juden wandern gewöhnlich in Länder aus, in denen politische Freiheit und soziale Gleichheit durch Gesetze geschützt sind. Diese Länder sind ebenfalls hoch industrialisiert, mit Möglichkeiten der Integration der Einwanderer in die Wirtschaft des neuen Landes. H. Solotaroff stimmte mit P. Kropotkins Charakterisierung der Juden als Stadtbewohner, unvertraut mit den Grundlagen der Landwirtschaft und Bebauung, überein. Deshalb, führte er aus, ist es nur natürlich, dass die meisten jüdischen Auswanderer hochentwickelte Länder als ihr Ziel wählen. Jedoch sind neu angekommene Juden unfähig, in dem neuen Land ein jüdisches Kulturleben zu schaffen und zu erhalten. Diese Unfähigkeit resultiert aus der Tatsache, dass in den USA und in den westeuropäischen Ländern die Juden kulturell wenig entwickelt sind. Als eine Konsequenz daraus assimilieren sie sich kulturell in ihre neue Umwelt. Nichtsdestotrotz ist ihre Assimilation niemals vollständig. In ihrem verzweifelten Versuch, die Wurzeln ihrer vergangenen Traditionen zu erhalten, werden sie zu Zwitterwesen, schwebend zwischen ihrem Judentum und den kulturellen Reizen der sie umgebenen Gesellschaft.
H. Solotaroff betrachtet die Situation in Palästina grundlegend anders. Im Vergleich zu den USA, wo die Einwanderung in großen Massen erfolgte, gehen nur wenige Juden nach Palästina. Diese sind Idealisten, die danach streben, eine "jüdische Heimstätte“ zu errichten. In dieser ökonomischen Rückständigkeit, genannt Palästina, ist weder urbanes Leben noch Industrie und Handel entwickelt. Diese Situation, behauptete H. Solotaroff, sei ideal, da nur in einem wirtschaftlich rückständigen Land die Option bestehe, zurück zu den Wurzeln zu gehen, landwirtschaftliche Siedlungen zu errichten, Land urbar zu machen und schließlich das stereotype Image des Kaufmanns und Geldverleihers abzuschütteln. Die wichtigste Sache jedoch sei, dass sich in der Semi-Wildnis die wenigen jüdischen Siedler nicht in die lokale arabische Bevölkerung assimilieren würden, da diese kulturell wenig entwickelt sei.
H. Solotaroff kritisierte die Zionisten dahingehend, dass sie ihre Ideen einer künftigen politischen Ordnung in Palästina mit einem Mantel der Zweideutigkeit umhüllten. Er vertrat eine Art Synthese zwischen nationalistischen und anarchistischen Prinzipien. Entsprechend seiner Synthese würde die künftige soziale und politische Struktur aus unabhängigen territorialen Einheiten oder Gemeinden bestehen, die im Rahmen einer föderalen Republik, ähnlich wie sie in der Schweiz existiert, zusammengefasst seien. Diese Föderation würde ein Teil der Weltordnung sein, in der die Gemeinden sich, entsprechend den nationalen Grenzen, zusammenschließen würden, um eine multinationale Föderation zu schaffen.
Moshe Katz und M. Leontieff (Lev Solomon Moiseev) waren unter den wenigen jüdischen Anarchisten diejenigen, die H. Solotaroffs Schritt in Richtung Zionismus unterstützten. Nach dem I. Weltkrieg und besonders nach dem II. Weltkrieg wuchs das zionistische Bewusstsein und schlug bei den jüdischen Anarchisten vieler Länder, hauptsächlich in den USA, Wurzeln. Es war die Errichtung der Kibbuzim, die eine starke Anziehungskraft auf die jüdischen Anarchisten ausübte und die dieses Experiment kollektiven Lebens aufmerksam beobachteten. Sie betrachteten es als eine Verkörperung der Vision P. Kropotkins von anarcho-kommunistischen Gemeinden. Diese starke Anziehungskraft war noch in den 1970er Jahren spürbar, wie bei Augustin Souchy, der seine Eindrücke in dem Buch „Reise durch die Kibbuzim“ (1979, deutsch 1984) zusammenfasste.
Mina Graur
Literatur und Quellen
- H. Frank: „Anarchism and the Jews”, in: B. J. Vlavianos and F. Gross (Hg.): Struggle for Tomorrow, New York 1954
- P. Kropotkin: „Noch Vegen Anarchizm un Tsionizm, Kropotkin-Zamelbuch, Buenos Aires 1947
- G. Landauer: Der werdende Mensch. Aufsätze über Leben und Schrifttum, Hg.: M. Buber, Potsdam 1921
- G. Landauer: Ketavim Umichtavim 1900-1919, Kibbuz Merkhavia 1982
- G. Landauer: „Judentum und Sozialismus“, Die Arbeit, Juni 1920
- B. Lazare: Job's Dungheap, New York 1948
- B. Lazare: Haantishemiut, Vilnius 1899
- K. Marx: „Zur Judenfrage“, in: MEW, Berlin 1961
- H. Solotaroff: „Erneste Fragen“, Freie Arbeiter Stimme, 23. Mai 1903
- H. Solotaroff: „Iber Natsionalizm“, Das Volk, 26. Januar 1906
- A. Souchy: Reise durch die Kibbuzim, Reutlingen 1984
Quelle: Dieser Artikel erschien erstmals in: Lexikon der Anarchie: Encyclopaedia of Anarchy. Lexique de l'anarchie. - Hrsg. von Hans Jürgen Degen. - Bösdorf: Verlag Schwarzer Nachtschatten, 1993-1996 (5 Lieferungen). - Loseblattsammlung in 2 Ringbuchordnern (alph. sortiert, jeder Beitrag mit separater Paginierung). Für die vorliegende Ausgabe wurde er überarbeitet.
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