David Edelstadt
Lexikon der Anarchie: Personen | In Arbeit
David Edelstadt (Jiddisch: דוד עדעלשטאַט, transkr.: Dovid edelshtat; geb. 21. Mai 1866 in Kaluga; gest. 17. Oktober 1892 in Denver); Jiddischer Dichter und Journalist.
Inhaltsverzeichnis
Leben
Frühe Kindheit
Die Eltern Edelstadts, Moisei Ivanovitch und Katerina Fiodorovna, lebten in der russischen Stadt Kaluga, rund 170 von Moskau entfernt. Unter den 39.000 Einwohnern befanden sich nur wenige hundert Juden, denn seit einem Erlass Katarina II. im Jahr 1791 existierten Ansiedlungsbezirke im europäischen Teil Russlands, die speziell für die jüdischen Bevölkerung geschaffen worden waren und in denen, trotz sukzessiver Rücknahme dieser Siedlungsbestimmungen unter Alexander II., noch immer die meisten Juden lebten.
Moisei Ivanovitch war ein Kantonist oder, wie man es heute ausdrücken würde, ein Kindersoldat. Entsprechend der von Nikolei I. erlassenen Kantonistendekrete wurde Ivanovitch bereits im Kindesalter zur Armee eingezogen und musste dann einen Wehrdienst von 25 Jahren ableisten. Dies berechtigte ihn schätzungsweise auch zur Niederlassung in Kaluga, wo er nach dem Militärdienst zuerst als Polizist und dann in einem Sägewerk arbeitete. Die Mutter Edelstadts, Katerina Fiodorovna, ernährte insgesamt sieben Kinder. Da in Kaluga nur die Sprösslinge wohlhabender Eltern das Gymnasium oder die Realschule besuchten und es für die Kinder niederer Klassen lediglich einige Grundschulen gab, wurde Edelstadt zusätzlich durch Privatlehrer in Russisch und Hebräisch unterrichtet. In dem Gedicht Familien-portret, geschrieben um 1885, beschreibt Edelstadt seine Eltern:
- Hier ist die Mutter, die Leidende und Gute –
- ich erinnere mich an deine Gestalt:
- dein klarer Kopf, die Liebe deine,
- umflochten voller Sorge und Leid.
[…]
- Und du mein Vater, in Gedanken verloren,
- grau und getreu,
- atmest von deinem Bild voll Zärtlichkeit,
- voll ehrlichem Patriarchat. [1]
In Kaluga beginnt Edelstadt auch seine Laufbahn als Dichter: "Ich war damals 15 Jahre alt und wohnte bei meinen Eltern in der Stadt Kaluga. Schon damals nannten mich meine Freunde und Bekannte „Poet“. Ich schrieb russische Gedichte. Meine Leidenschaft für Poesie, insbesondere für die russischen Dichter Nikitin und Nekrassow, wurde schon früh in meinem Herzen entfacht. Ich verbrachte viele Tage und Nächte über ihren meisterhaften Schilderungen über das Leiden und die Sorgen des russischen Volkes."[2]
Von Kiew nach Amerika
Als Jugendlicher geht Edelstadt nach Kiew, wo er in der Schusterei eines seiner älteren Brüder arbeitet. Es ist eine Zeit in welcher die zaristische Regierung die revolutionäre Bewegung bekämpft indem sie chauvinistische und antisemitische Einstellungen fördert. Am 8. Mai 1881 organisieren Regierungsstellen ein antijüdisches Pogrom in Kiew, das der junge Edelstadt miterlebt. Er wird daraufhin krank und muss in einem Spital behandelt werden. Die antisemitische Stimmung in Land nimmt in den Folgejahren zu. Die Stürme des Südens, wie die Pogrome in Kiew und Odessa später von jüdischen Autoren genannt werden sollten, veranlassten eine Auswanderungswelle unter der jüdischen Bevölkerung Russlands. Auch Edelstadt gehört dazu. Er schließt sich einer Studentengruppe an, die plant eine landwirtschaftliche Kolonie auf Basis des Kommunismus zu gründen und er will seinen Brüdern nahe sein, von denen bereits zwei in Vereinigten Staaten von Amerika leben.
Am 30. Mai 1882 erreicht Edelstadt Philadelphia. Noch am gleichen Tag reist die Gruppe nach New York und nachdem sie am Bahnhof ausgestiegen sind, stellen sie sich in einer Reihe auf und singen revolutionäre Lieder. Es ist der Memory Day, an dem die amerikanische Bevölkerung ihren Gefallenen gedenkt und Umzüge abgehalten werden. Zuerst glauben die Neuankömmlinge, man hätte ihre Ankunft zum Anlass genommen eine Parade zu veranstalten, doch als sie von einheimischen Kindern mit Steinen beworfen werden, klärt sich dieses Missverständnis auf.
Cincinnati
Edelstadt bleibt nicht lange in New York. Er trennt sich von der Siedlergruppe und fährt zu seinen Brüdern nach Cincinnati. Dort erlernt er die Arbeit an einer Knopflochmaschine und gerät in das berüchtigte Sweatshop-System. Einer seiner Brüder, der eine gut bezahlte Stelle als Buchmacher hat, unterstützt ihn finanziell, denn Edelstadts normales Gehalt reicht zum Leben nicht aus. In Cincinatti macht Edelstadt die Bekanntschaft mit einer Reihe russischen Schneider. Unter ihnen befinden sich Radikale verschiedener ideologischer Richtungen, darunter Hilel Zolotarov (1865-1921), den späteren Mediziner und Theoretiker des nationalistischen Anarchismus. Noch sind die Arbeitsverhältnisse in diesen Kreisen kein besonderes Thema. Man streitet sich vor allem um Fragen der russischen, revolutionären Literatur und Bewegung.
Die Hinrichtung der Haymarket Märtyrer und der Kampf um den acht Stunden Arbeitstag katalysieren die radikalen Impulse innerhalb der jüdischen Arbeiterbewegung in Amerika und auch Edelstadt wird vom Kampf der amerikanischen Arbeitermassen und den Ereignisse in Chicago erfasst. Seine ideologischen Präferenzen ändern sich. Zuvor hatte er sich unter dem Einfluss seiner russischen Freunde in Cincinnati zum Folkisten entwickelt, der an die allgemein menschliche Gerechtigkeit und das allgemeine menschliche Gewissen glaubt. Die Hinrichtung der Haymarket Märtyrer treibt den 21 jährigen Edelstadt allerdings zur Verzweiflung, denn ein Großteil der amerikanischen Bevölkerung begrüßt die Todesstrafe gegen die unschuldig Angeklagten, obwohl sie, in den Augen Edelstadts, lediglich für eine gerechte Sache kämpften. Mit Freunden gründet Edelstadt eine Gewerkschaft für Knopflocharbeiter, wofür er entlassen wird und als er sich für die inhaftierten Arbeiterführer in Chicago einsetzt, verhaftet man ihn. Die folgende Arbeitslosigkeit ist für Edelstadt sehr schwer, denn er ist erneut auf die Hilfe seiner Brüder angewiesen. Langsam verschwindet sein Traum vom besseren Leben in den Vereinigten Staaten und da er ein Cincinatti keine Anstellung findet, zieht er nach New York.
New York
Im November 1888 erreicht Edelstadt New York, wo zu jener Zeit eine Vielzahl politischer und ökonomischer Kämpfe toben. Einen Monat zuvor hatten sich die jüdischen Gewerkschaften in den „Fareynigte yidishe geverkshaftn“ zusammengeschlossen und somit an Schlagkraft gewonnen. Der Streit zwischen Sozialdemokraten und Anarchisten nimmt in jener Zeit zu und es beginnen die scharfe Debatten zwischen beiden ideologischen Gruppierungen. Edelstadt schließt sich der anarchistischen Gruppe Pionern der frayheyt an, zu denen auch der bekannte jiddische Dichter Morris Rosenfeld (1862-1932) gehört.
Die Pionern der frayheyt, gegründet am 6. Oktober 1886, waren die erste jiddisch sprechende, anarchistische Gruppe in den Vereinigten Staaten von Amerika. Wenige Jahre nach ihrer Gründung, Anfang der 1890er, existierten bereits Ortsgruppen in mehr als sechs Großstädten. Neben Edelstadt und Rosenfeld gehören Emma Goldmann (1869-1940) und Saul Yanovsky (1864-1939) zu den prominenten Mitgliedern der Gruppe.
Edelstadt ist begeistert von New York. In einem Brief vom 11. November schreibt er: „In New York lebt es sich merkwürdig schnell. [...] An einem Tag in New York kann man so viel erleben, wie in fünf Jahren in der ruhigen, friedlichen Stadt Cincinnati.“[3] In New York fühlt er „neues Leben, neue Kraft, die Lehre der Wahrheit, Selbstbildung und ein energisches Streben zum Licht“ - „besonders in jüdischen Kreisen.“ Edelstadt hört den sozialdemokratischen Redner Sergei Shevitch (1847-1911) und ist zu Tränen gerührt. Der Enthusiasmus der Masse gibt ihm das Gefühl „dass der Sozialismus kein Traum ist, keine Illusion, sondern die reale Zukunft des Volkes“[4] Doch von der Begeisterung alleine kann Edelstadt nicht leben. Er findet keine Arbeit und durchlebt schwere Zeiten. In seinem Lid fun a proletarier dichtet er zu jener Zeit:
- Hast du keine Arbeit – schlecht!
- Es erstickt dich die Not.
- Hast du Arbeit – schlecht,
- denn sie ist schwer wie der Tot. [5]
Die Not und Arbeitslosigkeit veranlassen Edelstadt zur Introspektion: Wofür bin ich auf der Welt, fragt er sich. Es ist „eine sehr schwere Frage mit einem Bart [...] Für einen Arbeiter ist sie schwer zu beantworten, doch noch schwerer ist es nicht zu verstehen für was, warum oder für wen man lebt.“ [6] In einem zweiten Lied, Fartseykhnungen fun a proletarier, schreibt er:
- Ich bin nicht geboren für süße Arien,
- für Rosen-Liebe oder für Glück.
- Ich bin auch kein Dichter, sondern Proletarier,
- ein Kind des Kampfes und der Fabrik. [7]
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Eine der Ursachen für Edelstadts Krankheit war ein Besuch bei Johann Most, den man auf Blackwell Island inhaftiert hatte. Auf dem offenen Schiff, windig und naß, erkältete sich Edelstadt so stark, dass er in ein Krankenhaus eingeliefert werden musste. Dort wird ihm Tuberkolose attestierte. Er wird nach Denver im Bundeststaat Kolorado gebracht, wo das Klima für Lungenkranke besser ist als in New York. Von dort schreibt er noch etliche Texte, die in der Fraye arbeter shtime veröffentlicht werden, bis die Herausgabe des Blattes im Juni 1892 für einen gewissen Zeitraum eingestellt wird.
Die letzten Tage
Die Bergluft Kolorados tut dem lungenkranken Edelstadt nicht in dem Maße gut, wie er und seine Freunde hoffen. Am 25. Dezember 1891 schreibt er in einem Brief an H. Veynberg: „um meine Gesundheit steht es immer noch nicht zum Besten.“ Er „hustet und fühlt sich schwach.“ Zwei Monate später, am 20. Februar 1892, schreibt er dem gleichen Veynberg: „Ich habe ihnen bis jetzt nicht geschrieben, denn ich habe mich gesundheitlich sehr schlimm gefühlt. Doch jetzt fühle ich mich etwas besser und hoffe auf den Frühling und dass ich mich im Sommer von meiner Krankheit erhole.“ Auch um Edelstadts materielle Lage steht es nicht gut, jedoch nicht so schlecht „wie bei jenen Tausend, die kein Brot und kein Fleisch haben.“ Und am meisten plagt ihn in jener Zeit „das Leben ohne Tätigkeit, ohne Freunde, weit ab der lebendigen Welt.“
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Nach seinem Tod wird Edelstadt in einem Massengrab für Pauper auf dem Riverside Friedhof beerdigt. Später bringt man ihn auf den Golden Hill Friedhof, wo der Workmen's Circle einen Grabstein stiftet. Darauf stehen, unter dem Bild und seinem Namen, die Verse des Gedichts Meyn tsvah (dt.: Mein letzter Wille).
- Oh guter Freund! Wenn ich sterben werde,
- tragt zu meinem Grab unsere Fahne -
- die freie Fahne mit roter Farbe,
- bespritzt mit Blut vom Arbeitsmann.
- Und dort, unter dem roten Banner,
- singt mir mein Lied, mein Freiheitslied!
- Mein Lied "Im Kampf", was klingt wie Ketten
- des versklavten Christ und Yid.
- In meinem Grab will ich auch hören,
- mein freies Lied, mein Sturmeslied,
- auch dort will ich Tränen vergießen,
- für den versklavten Christ und Yid.
- Und wenn ich die Schwerter klingen höre
- im letzten Kampf voll Blut und Schmerz -
- zum Volk will ich vom Grabe singen
- und will begeistern ihr Herz![8]
Werk
Poetik
Einflüsse
Antireligiöse Propaganda
Journalistische Tätigkeiten
Di vahrheyt
Di vahrheyt, deren erste Ausgabe am 15. Februar 1889 erschien, war die erste jiddische Zeitung in den Vereinigten Staaten von Amerika, die von einer Arbeiterorganisation, den „Pionern der frayheyt“, herausgegeben wurde. Als Chefredakteur war ursprünglich der Vater der radikalen, politischen, jiddischen Dichtung Morris Winchevsky vorgesehen, als dies jedoch nicht klappte, übernahmen Joseph Jaffa (1853-1915), der Jiddisch Übersetzer von Die Gottespest, Onkel Toms Hütte und Der Graf von Monte Christo das Amt. Zwei weitere Redaktionsmitglieder wurden ausgewählt: Hilel Zolotarov und David Edelstadt.
Edelstadt hatte bis dahin nur russische Gedichte geschrieben. Die Mitarbeit in der Zeitung markiert Edelstadts Einstieg in die jiddische Literatur, denn er beginnt nun Gedichte in Jiddisch zu schreiben. Er beschreibt diesen Einstieg Jahre später so: „Für mich persönlich war das eine doppelte Herausforderung: Zusammen mit der Vahrheyt wurde auch meine jiddische Muse geboren, mein erstes jiddisches Gedicht. Als ich meine erste Begrüßung im Jargon für die Vahrheyt geschrieben habe, wusste ich noch nicht, dass meine russische Muse zu einer Jiddischen umgetauft wird und ich Israeliten zum Kampf aufrufen werde. Doch so bescherte es mir der Gott der Poesie, der golden gelockte Apollo, der, wie mir scheint, auch ein großer Antisemit sein muss, da er mir keine jiddische Muse gab.“ [9]48
Edelstadts erstes Gedicht in Jiddisch ist Tsuruf tsur varheyt. Es erscheint in der ersten Ausgabe der Vahrheyt am 15. Februar 1889. Da er noch keine Erfahrung mit jiddischer Dichtung hat, nimmt er Winchevskys Tsuruf tsum arbeter fraynd als Muster. Doch Edelstadt findet sich in der jiddischen Sprache gut zurecht und in seinem dritten Lied In kamf orientiert er sich formal an den russischen Liedern, die er bis dahin geschrieben hatte. Das Lied wird ein Erfolg. Ein Jahr später stellt Morris Rozenfeld, der erfolgreichste jiddische Arbeiterdichter jener Zeit, das Lied in eine Reihe mit Winchevskys Marselieze und bezeichnet beide Gedichte als proletarische Musterlieder. Rosenfeld bezieht sich auch intertextuell auf die beiden Gedichte:
- Singt uns jetzt das Lied „Im Kampf“!
- Donnern soll die „Marsellaise“! [10]
Edelstadts Tätigkeit für Di vahrheyt beschränkte sich nicht nur auf Dichtung. Er erledigt anfallende redaktionelle Arbeiten und die Post. Als die Herausgabe des Blattes am 12. Juli 1889 eingestellt wird, zieht Edelstadt nach Cincinatti.
Di arbeter tsaytung
Fraye arbeter shtime
Die erste Ausgabe der Fraye arbeter shtime erschien am 4. Juli 1890. Erste organisatorische Schritte zur Veröffentlichung der FAS wurden am 12. Januar 1890 eingeleitet, als sich 200 Mitglieder der Internatsionale arbeter-federatsie trafen und beschlossen eine unparteiische Zeitung herauszugeben. Ursprünglich war der Name Der arbeter angedacht, doch drei Wochen später entschied man sich für den Namen Fraye arbeter shtime um die Unparteilichkeit der Zeitung hervorzuheben. Entsprechend dieses Grundsatzes wurde ein sozialdemokratischer und ein anarchistischer Redakteur benannt. Im Gegensatz zur sozialdemokratischen Arbeter tsaytung tendiert die FAS jedoch innerhalb kürzester Zeit zum anarchistischen Spektrum. Das Blatt hatte von Anfang an mit großen finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen. Schuld daran war vor allem der Erfolg anderer jiddischer Wochenzeitungen, dann war die jiddische Sprachkompetenz der frühen Schreiber eher begrenzt und die Hurra-revolutionäre Haltung der Anarchisten begeisterte nur wenige.
Am 25. Dezember kam es zur einer zweiten Konferenz. Edelstadt, der bis dahin regelmäßig Artikel und Gedichte beigesteuert hatte, wurde von der Redaktion dazu aufgefordert, teilzunehmen und dann bei der Neubesetzung der Redaktion, neben dem sozialdemokratischen Y. Aranovitsh, zum anarchistische Redakteur des Blattes ernannt. Entgegen seinen Überzeugungen - „Ikh ferkoyf nit meyn muze far gold!“[11] - stimmt er einer Bezahlung von 5 Dollar pro Woche zu, doch er bekommt sie höchstens alle drei Wochen ausgezahlt.
Angesichts der redaktionellen Vorgaben nimmt Edelstadt gegenüber der Sozialdemokratie vorerst eine versöhnliche Haltung ein und ruft zur Geschlossenheit auf. Innerlich lehnt er diese Haltung jedoch ab; er vertritt sie als pflichtbewusster Delegierter der Herausgebergruppe. Seine theoretischen Artikel sind jedoch streng anarchistisch. Einer seiner ersten Texte trägt den Titel Radikale tetigkeyt. Darin macht er aus dem bekannten Marx/Engels Zitat „Proletarier aller Länder vereinigt euch!“ den Satz „Proletarier aller Länder bewaffnet euch!“. In dem Artikel Anarkhizm un komunismuz, der kurze Zeit später erscheint, lehnt er, im Gegensatz zu der Lehre von Marx, jede Staatsform ab und negiert ausdrücklich die revolutionäre Rolle des Staates in Händen des Proletariats. Die Beseitigung des Kapitalismus muss durch eine Revolution erfolgen, der Kapitalismus „wird seine geraubten Reichtümer nicht freiwillig, sondern nur durch einen blutigen Kampf hergeben“ [12]. Der Streik scheint das geeignete Mittel für ihn zu sein - vor allem der letzte große Streik, der Generalstreik und damit verbunden die soziale Revolution. In seinem Lied „Der letster shtreyk“ proklamiert er nicht „Brot oder Arbeit!“ sondern „Tot oder Freiheit!“ und:
- Für diesen großen allweltlichen Streik,
- vereinigt euch Arbeitermassen -
- wenn ihr gewinnt erst das Sklaven-Brot,
- bleibt noch hungriger auf den Gassen!
Die redaktionellen Arbeiten erledigte Edelstadt sehr gewissenhaft. Er beschäftigte sich mit jedem eingehenden Text und wählte sie sorgfältig aus. In der Ausgabe vom 17. April beschreibt er seine Tätigkeit: "Es ist keine Kleinigkeit einen ganzen Stapel Artikel, eine ganze Wagenladung mit Gedichten und einen Berg von Gewerkschaftsnachrichten, Dankesbriefe und Beschwerdebriefe durchzulesen. Heute wieder Kopf zerbrechende, philosophische Fragen, wie z.b.: „Über uns sind die Wolken, über den Wolken ist der Himmel, was ist über dem Himmel?“[13]
Die Beschwerden stammen nicht selten von Anarchisten, die mit der unparteiischen Haltung der Fraye arbeter shtime unzufrieden sind und welche die Auffassung vertreten, dass der Kampf gegen die Sozialdemokratie und die Arbeter tsaytung in das Zentrum des Blattes gehört. Man beschimpft ihn als „Gentlemen“, als „poetischer Aristokrat“ und „weichherzigen Träumer“ [14]. Diese Beschwerden machen Edelstadt schwer zu schaffen, doch nicht nur das, er leidet unter Hunger und Kälte. Ab dem Herbst 1891 erscheinen keine Artikel mehr von ihm und wenig später auch keine Gedichte mehr. Am 23. Oktober erscheint ein Hilferuf für Edelstadt vom Verwalter der Zeitung Kopolev: „David Edelstadt hat alles gegeben – Zeit, Mühe, Gesundheit und Leben für die unterdrückten Arbeitermassen. Jetzt ist dieser Leib schwer verwundet. Er ist schwach, machtlos, im Ganzen zerbrochen. Er liegt und wartet auf sein trauriges Ende.“ [15]
Einige Gedichte
Wir werden gehasst und vertrieben
- Wir werden gehasst und vertrieben,
- wir werden geplagt und verfolgt,
- und alles nur, denn wir lieben
- das arme und leidende Volk.
- Wir werden erschossen und gehenkt,
- man raubt uns das Leben und Recht
- und alles nur, denn wir fordern
- die Freiheit für den armen Knecht.
- Aber wir werden uns nicht fürchten
- vor Gefängnissen und vor Tyrannei;
- wir werden die Menschheit erwecken;
- wir machen sie glücklich und frei.
- Schmiedet uns in eiserne Ketten,
- so blutig ihr uns auch reißt,
- ihr mögt unsere Körper töten,
- doch niemals unseren heiligen Geist.[16]
An einen Freund
- Das Schiff läuft zwischen rauschenden Wellen;
- der Sturm wird stärker mit jeder Minute;
- der Weg ist gefährlich... doch stark ist das Segel -
- ehrlicher Schiffer, verlier nicht den Mut!
- Es werden als böser die kämpfenden Ströme:
- sie werfen das Schiff herauf und herab;
- etwas bewegt sich und hässliche Monster
- stecken die Köpfe heraus aus dem Nass.
- Sie reißen auf ihre blutigen Mäuler,
- doch schnell trägt der Sturm das Schiff weiter weg.
- Es blitzt und es donnert, es spannt sich das Segel,
- zwischen den Felsen liegt der schreckliche Weg.
- Siehst du von weitem die roten Signale?
- Bald kommt dir zu Hilfe die heilige Zeit!
- Der Morgen geht auf – verlass nicht das Ruder!
- Kämpf mit dem Sturm! Der Strand ist nicht weit. [17]
Anarchie
- Eine Welt ohne Herrscher, ohne Ketten, ohne Tränen,
- eine Welt voller Liebe und Harmonie,
- wo des einen Glück wird des Zweiten nicht stören;
- das ist Anarchie!
- Eine Welt in der niemand regiert
- über des anderen Arbeit und Müh;
- frei werden die Herzen und Seelen sein;
- das ist Anarchie!
- Eine Welt in der Freiheit jeden beglückt,
- den Schwachen und Starken, den Er und die Sie,
- deins und meins wird niemanden drücken;
- das ist Anarchie!
- Eine Welt in der die Liebe nichts weiß,
- vom schändlichem Handel, frei wird
- eine liebende Brust sie glücklich genießen;
- das ist Anarchie!
- Eine Welt wo Kirchen und Synagogen,
- verwandelt werden in Ställe fürs Vieh,
- alle Galgen und Kerker werden zerschlagen;
- das ist Anarchie!
- Eine Welt wo der freie Geist aufbricht
- den finsteren Turm der Theologie,
- vernichten die Ursache aller Verbrechen;
- das ist Anarchie!
- Eine Welt wo Gewehre, Kanonen und Kronen,
- alle blutigen Zeichen der Monarchie,
- verlassen in Museen stehen;
- das ist Anarchie!
- Eine Welt wo die Sonne erhebt,
- die Kunst, die Wissenschaft und die Industrie,
- eine Welt voller Wissen – nicht Glauben;
- das ist Anarchie!
- Geschätzt wird sein jedes menschliche Wesen,
- wie die ganze Menschheit, heilig wie sie,
- Freiheit wird alles erquicken, erlösen;
- das ist Anarchie! [18]
Gedichte über Edelstadt
Die folgende Liste enthält eine Auswahl an Gedichten, die anlässlich des Todes oder in Bezug auf David Edelstadt entstanden sind. Das bekannteste dürfte Bovhovers Tsum andenkung fun dovid edelshtat sein, dass sich am Anfang zahlreicher postumer Gedichtsammlungen Edelstadts findet. Einige Gedichte, wie die von Rosenfeld und Winchevsky, beziehen sich kritisch auf Edelstadt und entstanden aus einem ideologisch gesteuerten Streit um die richtige Poetik. Literaturhistorisch bemerkenswert sind sicherlich die Gedichte von Glatshteyn und Leyeles, zwei Vertreter der modernistischen Gruppe In zikh, denn während sie auf der einen Seite Edelstadt produktiv rezipieren, zeigen die Gedichte auf formaler Ebene den Bruch mit der literarischen Ästhetik für welche der anarchistische Arbeiterdichter steht.
- N. M. Babad: Tsum poet. Gevidmet d. edelshtat
- N. M. Babad: In Memoriam of D. Edelstadt
- Moris Wintchevsky: Drey polemishe lider. Tsu dovid edelshtat
- Moris Rosenfeld: Tsu meyne kritiker
- Moris Hikvit: Oykh a vanderer
- Josef Bovshover: Tsum andenkung fun dovid edelshtat. Geshribn in dem tog fun zayn toyt
- S. Kohn: In shturem
- Y. Zeylin: Di frayheyt un die velt. Tsum andenk fun d. edelshtat
- Y. Zeylin: Tsum poet
- Y.Sh.Prenovits: Tsum ershte yortseyt
- Yitsok Reyngold: Troyer-lid
- H. Leyvik: Di balade fun denver sanatorium
- H. Leyvik: O, gute freynd
- N.A. Sul: Foroys vi di fon hot geflatert deyn lid
- Jakob Stodolski: Dovid edelshtat
- Kalmon Heyzler: Y. bovshover – dovid edelshtat
- L. Feynberg: Di tsavoe fun a antoyshtn komunistn
- A. Almi: Edelshtats letste minutn
- Z. Veynper: Oyfn keyver fun dovid edelshtat
- Yankev Glatshteyn: Mit frume hent
- Yankev Glatshteyn: Dovid edelshtat
- A. Leyeles: Dovid edelshtat
- N. Gros: In oyfgang fun a neyes morgn
- Jacob Isaac Sigal: Dovid edelshtat
Kalmon Heyzler: Josef Bovshover – David Edelstadt
- In der Geschichte steht geschrieben ein Blatt
- über Josef Bovshover und David Edelstadt.
- Josef Bovshover war ein Poet,
- David Edelstadt ein Feuerkomet,
- der bloß alle hundert Jahr
- wird ehrlich und wahr.
- Gleich einem Feuerschweif in der Nacht,
- ruft er zum Kampf und ruft er zur Schlacht.
- In der Geschichte steht geschrieben ein Blatt
- über Josef Bovshover und David Edelstadt.
- So hat David Edelstadt mit seinen Gedanken
- und Josef Bovshover mit seinem Gesang -
- angezündet die Welt von allen vier Seiten
- angezündet ein Licht auf ewige Zeiten,
- für die, die stolz zum Galgen gehen
- mit dem Arbeiterschwur stolz auf den Lippen.
- In der Geschichte steht geschrieben ein Blatt
- über Josef Bovshover und David Edelstadt.
- Das Blatt ist von Herzblut rot gefärbt
- und prophetische Rede ist tief eingekerbt.
- Es starren die Wörter und erzählen von weitem
- die Nachricht von Regenbogenzeiten.
- Wecken und trösten, trösten und wecken,
- bis das Böse und Schlechte wird enden.
N. M. Babad: An den Poeten. Gewidmet David Edelstadt
- Weine nicht, ich bitte dich, unglücklicher Bruder.
- Wisch ab deine Tränen, vergiss deinen Schmerz.
- Fühlst du, wie deine traurigen Lieder,
- mir Stücke schneiden aus meinem Herz?
- Oh, du hast auf deinem Weg viel gelitten,
- schreckliches Unglück, viel Elend und Not.
- Dich jagten und drückten die Parasiten;
- du hast gekämpft auf Leben und Tot.
- Ächzend, seufzend klingen die Saiten
- auf deiner alten, zerbrochenen Fiedel.
- Sie spielt uns Melodien – bitteren Jammer,
- sie spielt uns ein jämmerlich, weinendes Lied.
- Doch ich, ich bin jung und fang an zu leben.
- Ich will die lichte Seite der Welt sehen.
- Mein Herz will vor allem hoffen und glauben.
- Lass mich, ich bitte dich, träumen vom Glück.
- Hörst du, wie fröhlich die Vögel singen,
- in rauschenden Wäldern, im blühenden Feld.
- Siehst du wie Kinder tanzen und springen,
- alles ist munter, freut sich und wächst.
- Sing mir, wie sie, von dem Frühling, dem süßen.
- Vergesse den Winter – er ist noch ganz weit.
- Ich will in dem Leben von allem genießen,
- denn ich bin noch jung und ich hab noch Zeit.
Bibliographie
Quellen
- Battenberg, Friedrich: Das Europäische Zeitalter der Juden. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1990.
- Basin, Morris: Antologye. Finf hundert yohr yidishe poezie. 2. Aufl. New York: Dos bukh, 1917.
- Bialostotzky, B.J.: Dovid edelshtat gedenk bukh. New York: The Edelstat-Memorial-Committees, 1953.
- Edelstadt, David: Edelshtat's folks-gedikhte. Naye folshtendige oysgabe fun alle zayne lieder, New York: Hebrew Publishing Company, 1907.
- Marmor, Kalmon: Dovid Edelshtat. New York: Yidisher Kultur-Farband YKUF, 1950.
Themenverwandte Beiträge im Lexikon der Anarchie
Weblinks
- Bibliothek des YIVO Institute for Jewish Research
- National Yiddish Book Center
- Musik auf archive.org
Anmerkungen
Autor: Marcel Gruber
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