Brupbacher, Fritz
Lexikon der Anarchie: Personen
Fritz Brupbacher, geb.: 30. Juni 1874, Zürich; gest.: 1. Januar 1945, Zürich. Arzt und Anarchist.
Inhaltsverzeichnis
Äußere Daten
Brupbachers Vater, den er später einmal als „personifizierten Kleinbürger“ bezeichnete, führte zunächst in Zürich eine Badeanstalt und später ein Hotel mit Restaurationsbetrieb. Seine Mutter entstammte einer aufgeklärten, dem Liberalismus verpflichteten Familie, so dass er in der Bibliothek seines Großvaters die ersten tiefergehenden Anregungen erhielt, die seinen späteren ungewöhnlichen Lebensweg prägten.
Nach dem Besuch des Gymnasiums in seiner Heimatstadt begann Brupbacher im Herbst 1893 in Genf, auf Drängen seines Vaters, ein Medizinstudium. Ursprünglich beabsichtigte er im Studium seine philosophischen Neigungen zu befriedigen – er ist in dieser Zeit stark von Friedrich Nietzsche beeindruckt –, aber schon bald setzte ein für Brupbacher typischer innerer Kampf zwischen dem Drang nach echter Selbstverwirklichung und einem strengen Realismus, der den materiellen Lebensnotwendigkeiten Rechnung tragen wollte, ein.
Mit großer Zielstrebigkeit versuchte er, nach seinem medizinischen Staatsexamen im November 1898, das Berufsziel des Psychiaters zu erreichen. Um den üblichen Studentenverbindungen zu entgehen engagierte er sich in der Züricher Sektion des sogenannten akademischen Abstinentenvereins, 1896 wurde er sogar dessen Präsident.
In Zürich kamen seit den 1870er Jahren eine große Zahl politischer Exilanten zusammen, von denen die russischen Revolutionäre die größte Gruppe bildete. Die Bekanntschaft und der Gedankenaustausch mit diesen radikalen Sozialisten förderte bei Brupbacher eine Entwicklung vom reinen Individualismus zur Anerkennung des kollektiven Prinzips. Im Sommer lernte er seine spätere erste Frau Lydia Petrowna – ebenfalls Medizinstudentin – kennen, deren Agitation wesentlich dazu beitrug, dass sich Brupbacher zunächst mit den Sozialismuskonzeptionen der Sozialdemokratie beschäftigte. In dieser Zeit (1898) hatte er als Stellvertreter eines niedergelassenen Arztes erstmals wirklichen Kontakt mit dem Arbeitermilieu – ein weiteres prägendes Erlebnis. Im Mai 1898 wurde er Mitglied des sozialdemokratischen Arbeiterbildungsvereins „Eintracht“ und Parteimitglied.
Ein Vortrag von ihm zum Thema Frauenemanzipation – zusammen mit der Sexualaufklärung einer der Arbeitsschwerpunkte des späteren politischen Autors Brupbacher – mit dem Titel „Geburtshelfer Runge und die Frauenemanzipation“ weitete sich zu einem Skandal aus, der letztendlich dazu führte, dass Brupbacher nicht promovieren konnte.
Im Januar 1899 ging er nach Paris, um sich in einem angesehenen Krankenhaus auf dem Gebiet der Psychiatrie weiterzubilden. Die Beobachtung des großbürgerlichen Milieus im Hause seiner Tante, bei der er lebte, und die kontrastierenden Eindrücke die er den Besuchen bei russischen und französischen Sozialisten entnehmen konnte, ebenso die Bekanntschaft mit Oskar Panizza und Frank Wedekind, förderten seine Entwicklung zum radikalen Sozialisten. In seinen Memoiren schrieb er: „Ich unterschied zwischen dem Arbeitersozialismus und meinem Sozialismus und fand, dass der erstere in meinem Sozialismus enthalten sei, nicht aber mein Sozialismus in dem Arbeitersozialismus. Und diese Unterscheidung habe ich bewusst mein ganzes Leben gemacht“ (60 Jahre Ketzer, S. 80).
In die Schweiz zurückgekehrt begann Brupbacher mit der „Jungen Schweiz“ (in den Jahren 1899/1900 erschienen vier Nummern) ein erstes Zeitschriftenprojekt, durch das er seine bis dahin geschriebenen, gesammelten Artikel und Vorträge veröffentlichen konnte. Trotz der daraufhin folgender Reaktion der Etablierten bekam Brupbacher im Frühjahr 1900 eine Anstellung als leitender Arzt einer „Privatirrenanstalt“.
Im Frühjahr 1901 eröffnete er im Züricher Arbeiterviertel eine Arztpraxis. Als damals überzeugter Marxist ordnete er sich der Politik der Sozialdemokratischen Partei (SP) unter und wurde Gemeinderat und Armenpfleger. Dennoch blieb er von Beginn an ein Außenseiter und provozierte Widerstand. Er selbst beschrieb später seine innere Verfassung als zerrissen und gestört.
Im Herbst heirateten Brupbacher und L. Petrowna, die inzwischen als ausgebildete Ärztin in Rußland arbeitete und nur zu längeren Besuchen nach Zürich zurückkehrte. Sie regte bei Brupbacher ein besonderes Interesse für den russischen Sozialismus an, so daß er zu einem intimen und kompetenten Kenner der dortigen Verhältnisse – 1910 und 1911 reiste er selbst für einige Monate nach Rußland – bis in die 20er Jahre hinein wurde.
Bis 1905 hatte sich Brupbacher immer mehr von der reinen Lehre des Marxismus entfernt und war zusätzlich von der Mentalität und politischen Praxis der sozialdemokratischen Führer angewidert. Er arbeitete verstärkt mit den sehr heterogen zusammengesetzten linksradikalen Kreisen Zürichs zusammen und beteiligte sich an der anarchistischen Zeitung „Der Weckruf“.
Im Sommer 1905 traf er auf Jersey Peter Kropotkin und James Guillaume, der ihn in die Geschichte der Ersten Internationale einführte und ihm ein Empfehlungsschreiben mit auf den Weg nach Paris gab, wo Brupbacher mit Vertretern der CGT zusammentraf. Der revolutionäre Syndikalismus wurde für ihn zu einem zeitgemäßen und hoffnungsvollen Vertretungsprinzip der Arbeiterinteressen.
Ende 1906 bis 1908 gab er zusammen mit Max Tobler u.a. die Zeitschrift „Polis“ heraus, mit der man die Distanz zwischen Intellektuellen und Arbeitern abzuschwächen versuchte. Brupbacher schwankte zwischen einem längst verinnerlichten libertären Sozialismus und dem Glauben an eine unangreifbare, geschlossene Arbeiterbewegung.
1907 lernte er in Zürich Ferdinand Domela-Nieuwenhuis kennen, mit dem er in allen wesentlichen Punkten übereinstimmte. Aus Anlass einer Festveranstaltung zum 1. Mai 1908 in Genf traf er Pierre Monatte, der später für einige Wochen bei ihm lebte. Brupbacher reiste jedes Jahr für mehrere Wochen nach Paris und lernte die dortige Arbeiterbewegung in ihren inneren Verhältnissen kennen. Seit 1909 beteiligte er sich regelmäßig an der Zeitschrift „Vie Ouvrière“ der französischen Syndikalisten.
Im August 1913 erschien in München, im Verlag der sozialdemokratischen (!) „Münchener Post“, das wohl bedeutendste Buch Brupbachers „Marx und Bakunin“, in dem er – auf der Grundlage der Studien von Max Nettlau, mit einem psychologischen Ansatz – den Zusammenhang zwischen den unterschiedlichen Persönlichkeiten der beiden Sozialisten, ihren theoretischen Konzepten und ihrer Wirkung in der Arbeiterbewegung herauszuarbeiten versuchte.
Nach langen Querelen – Brupbacher hatte sich durch seine Arbeit als Arzt, und als politischer Autor und Journalist, er schrieb u.a. zahlreiche Broschüren zur Sexualaufklärung, aber auch zu historischen Themen, eine gewisse Unabhängigkeit geschaffen – wurde Ende 1913 ein Ausschlussverfahren gegen ihn eingeleitet, das von der Parteileitung gegen die Parteibasis allerdings nicht durchgesetzt werden konnte. Im Oktober 1914 wurde das Verfahren eingestellt. Brupbacher trat erst 1920 offiziell aus der SP aus und wurde 1921 Mitglied der Kommunistischen Partei (KP).
Während des Ersten Weltkriegs hatte Brupbacher einen Gesprächskreis gebildet, in dem sich vor allem junge Erwachsene mit klassischer Literatur, sozialistischen Theorien u.a. beschäftigen konnten – eine Art freier Volkshochschule. Hieraus entstand die Zeitschrift „Der Revoluzzer“ (Sozialistische Zeitung, Zürich 1915/16) die Brupbacher redaktionell betreute.
1921 wurde Brupbacher von Willy Münzenberg, den er aus dessen Züricher Zeit kannte, in Berlin für eine Reise im Auftrag der „Internationalen Arbeiter Hilfe" (IAH) in die junge Sowjetunion instruiert. Im November 1921 trat er die Reise in die UdSSR an. Im Hotel Lux erhielt er einen Einblick in die beginnende Phase des totalen Terrors gegen alle tatsächlichen, oder vermeintlichen Gegner des Parteiregimes. Lehrreich und abschreckend waren die Zusammenkünfte mit Karl Radek und Leo Trotzki, den er ebenfalls bereits in Zürich, wie auch Lenin, kennengelernt hatte. Seine eigentliche Mission, eine Beobachtungsreise in ein Hungergebiet desillusionierte, was die Entwicklungsmöglichkeiten der UdSSR anging, Brupbacher völlig. Obwohl er nie einen Hehl aus seiner anarchistischen Grundüberzeugung machte, dauerte es bis zum Februar 1933, dass er aus der KP ausgeschlossen wurde.
Seit Ende der 20er Jahre hatte Brupbacher engeren Kontakt zu M. Nettlau bekommen, durch dessen Einfluss er endgültig den inneren Zwang abschüttelte, gegen alle Vernunft und Einsicht, den realen Arbeiterorganisationen eine wirksame revolutionäre Substanz beizumessen. Zusammen mit M. Nettlau, der die Anmerkungen schrieb, seiner zweiten Frau Paulette, die übersetzte, gab er eine französische Ausgabe von Michail Bakunins Beichte (Paris 1932) heraus. Im Vorwort griff er sein altes Thema Karl Marx und M. Bakunin wieder auf.
Brupbachers, in Inhalt und Form sehr eigenständige Art des Denkens vermittelt sich, verbunden mit einem außergewöhnlich hohen Unterhaltungswert, in seiner 1935 erschienenen Autobiographie: „60 Jahre Ketzer. Ich log so wenig als möglich“ und in der, erst nach seinem Tod von Paulette Brupbacher herausgegebenen Aphorismensammlung „Der Sinn des Lebens“ (Zürich 1946).
Politische Entwicklung und Theorieausbildung
Brupbacher entwickelte, wie es so vielen anderen auch ergeht, in seiner Jugend einen extremen Individualismus, die Philosophie Nietzsches bot dabei Anregung und auch Legitimation. Die Freundschaft mit russischen Emigranten forcierte eine persönliche Entwicklung, die über die Auseinandersetzung mit dem russischen Nihilismus, der das Verhältnis zwischen Einzel- und Kollektivinteressen auslotete, zur Beschäftigung mit sozialistischen Theorien führte.
Die Ablehnung und Abwehr der bürgerlichen Welt – und dabei spielte das Archetypische der Züricher Bürger eine nicht unbedeutende Rolle – als Sinnbild sozialer Ungerechtigkeit und Borniertheit, wurde zum Ausgangspunkt einer umfassenden Gesellschaftsanalyse, die zu latent libertären Überzeugungen führte.
Seine erste Frau Lydia Petrowna „infizierte“ ihn mit weitergehenden und den Anarchismus überdeckenden Vorstellungen über die Bedeutung des Proletariats, des Kollektivs überhaupt, in einem gesellschaftsverändernden Prozess. Verbunden mit einer Art Schuldkomplex als Angehöriger der Bourgeoisie wollte er seine Lebenskraft dem Kampf der Arbeiterbewegung widmen. Dass viele Aktivitäten Brupbachers entgegen eigentlichen Überzeugungen und Einsichten, wie er später reflektierte, entstanden, weist auf seinen ständigen inneren Konflikt zwischen dem Wunsch nach weitgehender individueller Freiheit und der, von den äußeren Bedingungen diktierten, Unterordnung unter die Interessen der Gemeinschaft hin.
Das Engagement für die Parteien denen er angehörte, waren Ausdruck seiner „romantischen“ Vorstellung, dass diese Organisationen, trotz aller Bedenken wegen ihrer Auswüchse, wirklich den Willen der Menschen, eine neue sozialistische Welt zu schaffen, repräsentierten. Der revolutionäre Syndikalismus mit seinen basisdemokratischen Vertretungsmodellen, schien für ihn eine notwendige Selbstreinigung der Arbeiterbewegung gegen eine Verbürgerlichung zu gewährleisten.
Die russische Revolution, zunächst freudig begrüßt, aber schon mit Sorge, was die Rolle der Bolschewisten angeht, beobachtet, wurde für Brupbacher, wie für so viele seiner Generation, zum Wendepunkt.
Ende der zwanziger Jahre, begleitet von Diskussion mit Freunden wie M. Nettlau, setzte eine lange Selbstanalyse ein, die als vorläufiges Ergebnis die Einsicht brachte, dass die Suche nach der sozialistischen Gemeinschaft das Ziel aller konstruktiv denkenden Menschen bleibt, aber davon die Politik und das Manövrieren politischer Organisationen im herkömmlichen Sinne, eigentlich völlig zu trennen sind.
Stellenwert innerhalb des libertären Spektrums
Brupbacher ist vielleicht als einer der entschiedensten und originärsten Anarchisten seiner Zeit zu bezeichnen, obwohl oberflächlich betrachtet die Mitgliedschaft in der SP und KP und sein politisches Wirken dagegen sprechen. Aber wenn man – was wesentlich ist – die Identifikation libertärer Überzeugungen nicht allein an politische Postulate, organisatorische Deklarationen und die häufig dazugehörende Selbstgerechtigkeit bindet, sondern den Lebensweg, auch im privaten Bereich, die persönlichen mit echten Konsequenzen verbundenen Entscheidungen eines Menschen zur Grundlage nimmt, ist solch eine Aussage über ihn verständlicher.
Brupbacher ist von vielen Libertären seiner Zeit als Gesprächspartner, Ideengeber und Kritiker auf Grund seiner persönlichen Integrität und Kompetenz in vielen Sachfragen geschätzt worden. Er versuchte – und dies war wenig realistisch – spontane Aktionen und planvolles, langfristiges Vorgehen in der Arbeiterbewegung zu „predigen“. Unter Ausblendung aller negativen Auswüchse einer Funktionärskaste sollte die Arbeiterbewegung Modell und Motor einer neuen Gesellschaft werden.
Autor: Manfred Burazerovic
Literatur
Überwiegend deskriptiv, wenig interpretierend angelegt ist die Biographie von:
- K. Lang: Kritiker, Ketzer, Kämpfer. Das Leben des Arbeiterarztes Fritz Brupbacher, Zürich (2. Aufl.) 1983.
Eine Auswahl der Broschüren und Bücher Fritz Brupbachers
- Kindersegen – und kein Ende?, Zürich 1903
- Der Zweck des Lebens, Zürich 1911
- Die helvetische Revolution und die Arbeiterbewegung in der Schweiz, Zürich 1912
- Der Sonderbundskrieg und die Arbeiterschaft, Zürich 1913
- Marx und Bakunin, München 1913, Potsdam 2014 (Erweiterte Neuausgabe)
- Der Pariser Kommuneaufstand 1877, Zürich 1917, Basel 1921
- Um die Moral herum, Zürich 1917
- Wo ist der Sitz der Seele? Zürich 1924, Berlin 1926
- Kindersegen – Fruchtverhütung – Fruchtaustreibung, Zürich 1927, Berlin 1929
- Michael Bakunin – der Satan der Revolte, Zürich 1929, Berlin 1979 (Reprint)
- Liebe, Geschlechtsbeziehungen und Geschlechtspolitik, Berlin 1930
- Die Grundlagen des idealistischen Sozialismus, Zürich o. J.
- 60 Jahre Ketzer. „Ich log so wenig als möglich“ (Autobiographie), Zürich 1935, 1981
- Der Sinn des Lebens, Zürich 1946
- Hingabe an die Wahrheit. Texte zur politischen Soziologie, Individualpsychologie, Anarchismus, Spiessertum und Proletariat, Berlin 1979 (enthält u.a. Texte aus „Der Sinn des Lebens“)
Quelle: Dieser Artikel erschien erstmals in: Lexikon der Anarchie: Encyclopaedia of Anarchy. Lexique de l'anarchie. - Hrsg. von Hans Jürgen Degen. - Bösdorf: Verlag Schwarzer Nachtschatten, 1993-1996 (5 Lieferungen). - Loseblattsammlung in 2 Ringbuchordnern (alph. sortiert, jeder Beitrag mit separater Paginierung). Für die vorliegende Ausgabe wurde er überarbeitet.
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