AGWA - 08
Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit - Reihentiteleintrag
Buchcover: | |
Titel: | Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit; Bd. 9 |
Herausgeber: | Wolfgang Braunschädel, Johannes Materna |
Verlag: | Germinal Verlag |
Erscheinungsort: | Fernwald |
Erscheinungsjahr: | 1987 |
Umfang, Aufmachung: | Broschur, 208 Seiten |
ISBN: | 978-3886634088 |
Preis: | 11,00 EUR |
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Inhaltsverzeichnis
Inhalt
- Zu diesem Heft [4]
- Walther L. Bernecker „Reiner“ oder „syndikalistischer“ Anarchismus? Zum Spannungsverhältnis libertärer Organisationen in Spanien [13]
- Hans Schafranek/Werner Wögerbauer „Nosotros, Agentes Provocadores.“ Anmerkungen zur Geschichte der „Amigos de Durruti“ [33]
- Sabine Behn/Monika Mommertz „Wir wollen eine bewusste weibliche Kraft schaffen.“ Mujeres Libres - anarchistische Frauen in Revolution und Widerstand [53]
- Reinhold Görling „Weil ich die Monotonie eines faschistischen Europa nicht aushalten will...“ (Vorbemerkungen zu einem Zeitungsinterview mit Carl Einstein aus dem Jahre 1938) [69]
- Sebastià Gasch Einige sensationelle Erklärungen von Carl Einstein [72]
- Ulrich Linse/Michael Rohrwasser Der Mann, der nicht B. Traven war. Zur Biographie Roben Bek-grans [75]
- Michael Buckmiller Anmerkungen zu Heinz Langerhans und seinem Bericht über das „Buch der Abschaffungen“ von Karl Korsch 99
- Heinz Langerhans Das Buch der Abschaffungen. Bericht über nachgelassene Aufzeichnungen von Karl Korsch [107]
- Andreas Müller Aufbruch in neue Zeiten. Anarchosyndikalisten und Nationalsozialisten in Mengede in der Frühphase der Weimarer Republik [121]
- Manfred Grieger „Der Betreuer muss der von den Ausländern anerkannte Herr sein.“ Die Bochumer Bevölkerung und die ausländischen Arbeiter, Kriegsgefangenen und KZ-Häftlinge 1939-1945 [155]
- Willy Buschak Kellner im Widerstand [165]
- Rezensionen und Hinweise [175-208]
Rezensionen und Hinweise
- Aufstände, Revolten und Prozesse. Beiträge zu bäuerlichen Widerstandsbewegungen im frühneuzeitlichen Europa. Hrsg. von Winfried Schulze, Stuttgart: Klett-Cotta Verlag, 1983, 288 S. [175]
- Werner Troßbach, Soziale Bewegung und politische Erfahrung. Bäuerlicher Protest in hessischen Territorien 1648-1806, Weingarten: Drumlin Verlag, 1987, 336 S. [175]
- Werner Troßbach, Bauernbewegungen im Wetterau-Vogelsberg-Gebiet 1648-1806. Fallstudien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich, Darmstadt/Marburg: Selbstverlag der Hessischen Historischen Kommission Darmstadt und der Historischen Kommission für Hessen, 1985, 601 S. (Jörg Hausmann) [175]
- Uwe Backes u.a., Reichstagsbrand - Aufklärung einer historischen Legende, München/Zürich: Piper Verlag, 1986, 326 S. (Johannes Materna) [177]
- Dick Geary, Arbeiterprotest und Arbeiterbewegung in Europa 1848-1939, München: Verlag C.H. Beck, 1983, 203 S. (Johannes Materna) [178]
- Gerald D. Feldman, Armee, Industrie und Arbeiterschaft in Deutschland 1914-1918, Berlin/Bonn: Verlag J.H.W. Dietz, 1985, 448 S. [180]
- Gerald D. Feldman/Irmgard Steinisch, Industrie und Gewerkschaften 1918-1924. Die überforderte Zentralarbeitsgemeinschaft, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1985, 222 S. (Johannes Materna) [180]
- Wolfram Siemann, "Deutschlands Ruhe, Sicherheit und Ordnung." Die Anfänge der politischen Polizei 1806-1866, Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1985, 533 S. (Rainer Schöttle) [182]
- Ulrich Klan/Dieter Nelles, "Es lebt noch eine Flamme." Rheinische Anarcho-Syndikalisten/-innen in der Weimarer Republik und im Faschismus, Grafenau-Döffingen: Trotzdem Verlag, 1986, 368 S. (Wolf Raul) [183]
- Willy Buschak, Das Londoner Büro. Europäische Linkssozialisten in der Zwischenkriegszeit, Amsterdam: IISG, 1985, 359 S. (Karl Andres) [185]
- Louis Dupeux, "Nationalbolschewismus" in Deutschland 1919-1933. Kommunistische Strategie und konservative Dynamik, München: Verlag C.H. Beck, 1986, 492 S. [187]
- Patrick Moreau, Nationalsozialismus von links. Die "Kampfgemeinschaft Revolutionärer Nationalsozialisten" und die "Schwarze Front" Otto Straßers 1930-1935, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1985, 267 S. (Wolfgang Braunschädel) [187]
- Helga Grubitzsch/Hannelore Cyrus/Elke Haarbusch (Hrsg.), Grenzgängerinnen. Revolutionäre Frauen im 18. und 19. Jahrhundert. Weibliche Wirklichkeit und männliche Phantasien, Düsseldorf: Schwann Verlag, 1985, 342 S. [190]
- Carola Lipp (Hrsg.), Schimpfende Weiber und patriotische Jungfrauen. Frauen im Vormärz und in der Revolution 1848/49, Moos/Baden-Baden, 1986, 432 S. (Thea A. Struchtemeier) [190]
- Gisela Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1986, 494 S. (Thea A. Struchtemeier) [191]
- Sigrid Koch-Baumgarten, Aufstand der Avantgarde. Die Märzaktion der KPD 1921, Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag, 1986, 576 S. (Wolfgang Braunschädel) [194]
- Dirk H. Müller, Gewerkschaftliche Versammlungsdemokratie und Arbeiterdelegierte vor 1918. Ein Beitrag zur Geschichte des Lokalismus, des Syndikalismus und der entstehenden Rätebewegung, Berlin: Colloquium Verlag, 1985, 367 S. (Wolfgang Braunschädel) [196]
- Protokoll des 1. ordentlichen Parteitages der Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands vom 1. bis 4. August 1920 in Berlin, hrsg. und eingel. von Clemens Klockner, Darmstadt: Verlag für wissenschaftliche Publikationen, 1981, 203 S. [197]
- Protokoll des 1. außerordentlichen Parteitages der Kommunistischen Arbeiter-Partei Deutschlands vom 15.-18. Februar 1921 im Volkshaus zu Gotha, hrsg. und eingel. von Clemens Klockner, Darmstadt: Verlag für wissenschaftliche Publikationen, 1984, 311 S. [197]
- Protokoll des außerordentlichen Parteitages der Kommunistischen Arbeiter-Partei Deutschlands vom 11. bis 14.9.1921 in Berlin, hrsg. und eingel. von Clemens Klockner, Darmstadt: Verlag für wissenschaftliche Publikationen, 1986, 189 S. [197]
- Otto Langels, Die ultralinke Opposition der KPD in der Weimarer Republik. Zur Geschichte und Theorie der KPD-Opposition (Linke KPD), der Entschiedenen Linken, der Gruppe "Kommunistische Politik" und des Deutschen Industrie-Verbandes in den Jahren 1924 bis 1928, Frankfurt am Main/Bern/ New York/Nancy: Verlag Peter Lang, 1984, 341 S. (Wolf Raul) [197]
- Reinhold Görling, "Dinamita Cerebral". Politischer Prozeß und ästhetische Praxis im Spanischen Bürgerkrieg (1936-1939), Frankfurt/Main: Verlag Klaus Dieter Vervuert, 1986, 574 S. (Wolf Raul) [200]
- Klaus Tenfelde (Hrsg.), Arbeiter und Arbeiterbewegung im Vergleich. Berichte zur internationalen historischen Forschung, München: R. Oldenbourg Verlag, 1986, 896 S. (Wolfgang Braunschädel) [201]
- Hinweise 202
Beschreibung
Zu diesem Heft
I.
Das Interesse am spanischen Bürgerkrieg und an der spanischen Revolution scheint ein Jahr, nachdem auch die populären Medien in mehr oder weniger sachgerechter Form über die fünfzig Jahre zurückliegenden Ereignisse berichteten, wieder auf einen kleinen Kreis von Experten und/oder politisch Interessierten beschränkt zu sein. Die ersten vier Beiträge des vorliegenden "Archiv" versuchen auf unterschiedliche Art und Weise, verschiedene Aspekte des damaligen Geschehens festzuhalten.
Das herausragende Interesse, das die revolutionären Ereignisse besonders der Monate zwischen dem Ausbruch des Bürgerkrieges im Sommer 1936 und dem Sommer 1937 verdienen, verdankt sich in erster Linie dem spezifischen Einfluß, den die anarchistische und anarchosyndikalistische Arbeiterbewegung in Spanien hatte. Walther L. Bernecker gibt in seinem Beitrag einen Abriß der geschichtlichen Entwicklung der libertären Organisationen Spaniens, wobei der Schwerpunkt, der Bedeutung der Ereignisse entsprechend, auf die Diskussionen und Auseinandersetzungen in den dreißiger Jahren gelegt wird. Unter Berücksichtigung der strukturellen Unterschiede zwischen dem stärker industrialisierten Norden Spaniens und dem eher ländlichen Süden kommt Bernecker zu dem Ergebnis, daß die spanische libertäre Bewegung von Beginn an keine einheitliche, in sich kohärente Orientierung besaß. Die Erkenntnis dieses Faktums bildet nicht nur die Basis für einen realistischen, entmythologisierenden Blick auf den spanischen Anarchismus bzw. Anarchosyndikalismus, sondern liefert auch einen Erklärungsansatz für die Tatsache, daß die inneren Widersprüche in der spanischen libertären Bewegung schon bald nach den ersten Erfolgen gegen die frankistische Erhebung im Sommer 1936 in aller Deutlichkeit zum Vorschein kamen. In dem Maße, in dem von dem in dieser Zeit sich rapide entwickelnden bürokratischen Apparat der CNT/FAI eine Schwerpunktverlagerung von den Zielen der sozialen Revolution auf die Erfordernisse einer rein militärischen Auseinandersetzung vorgenommen wurde, entwickelte sich eine inneranarchistische Opposition, die allerdings weithin von marginaler Bedeutung bleiben sollte.
Hans Schafranek und Werner Wögerbauer beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit der Organisation, die in dieser Zeit zum wohl wichtigsten Träger oppositioneller Ideen und Vorstellungen wurde: den "Amigos de Durruti". Diese Gruppierung hatte sich im Frühjahr 1937 aus Opposition gegen die schon im Herbst 1936 begonnene und alsbald von der CNT/FAI-Führung unterstützte Militarisierung auch der anarchosyndikalistischen Milizen gebildet. Sie vertrat ein sozialrevolutionäres Programm, das an die Hoffnungen vom Juli 1936 anknüpfte, ohne dem traditionellen apolitischen Verhalten Tribut zu zollen, in das sich manche Anarchosyndikalisten angesichts der reformistischen Politik ihrer Führung zurückzogen. Den größten Einfluß in ihrer nur kurzfristigen Existenz erreichten die "Amigos de Durruti" während der Maikämpfe 1937 in Barcelona, an denen sie sich an vorderster Front beteiligten. Nach den Maiereignissen, die zum sichtbarsten Ausdruck der sich immer stärker wandelnden Machtverhältnisse im republikanischen Teil Spaniens wurden, sahen sich nicht nur die "Amigos de Durruti", sondern die libertäre Bewegung insgesamt endgültig in die Defensive gedrängt; für die "Amigos de Durruti" hatte dies alsbald die organisatorische Auflösung zur Folge.
Mit einer anderen libertären Organisation, die bei den Autoritäten von CNT und FAI auf wenig Gegenliebe stieß, befassen sich Sabine Behn und Monika Mommertz. Die "Mujeres Libres" entwickelten sich seit Anfang 1936 - noch vor Ausbruch des Bürgerkrieges - im Zusammenhang mit der Herausgabe der gleichnamigen Zeitschrift, von der im Laufe der nächsten Jahre insgesamt dreizehn Hefte erschienen, zu einer Bewegung, die eigenständige Positionen zur Frauenfrage entwickelte. In einer traditionell stark patriarchalisch strukturierten Gesellschaft kollidierten auch in der libertären Bewegung theoretische Erkenntnisse zur Frauenfrage mit ihrer praktischen Umsetzung im konkreten Alltagsleben. Mit Beginn des Bürgerkrieges sahen sich die "Mujeres Libres" in der eigenständigen emanzipatorischen Interessen nicht unbedingt dienlichen Situation, ihre Kritik am autoritären Gehabe ihrer patriarchalischen Umwelt mit den Erfordernissen des Kampfes gegen die Truppen Francos verbinden zu müssen. Auch wenn die von "Mujeres Libres" entwickelten theoretischen und praktischen Positionen aus der historischen Rückschau in vielerlei Hinsicht widersprüchlich erscheinen, kommt ihnen doch das Verdienst zu, auch das libertäre Lager mit der Infragestellung tradierter patriarchaler Verhaltensweisen konfrontiert zu haben.
Von Carl Einstein, der sich schon frühzeitig den anarchosyndikalistischen Milizen angeschlossen hatte, sind aus der Zeit, die er in Spanien verbracht hat, bisher nur zwei Texte bekannt geworden. Einstein hatte mit dem zuerst 1912 in Buchform veröffentlichten Text "Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders" eines der wichtigsten Werke des deutschen Expressionismus vorgelegt und sich später mit seiner Arbeit über "Negerplastik" (1916) und besonders mit seiner "Kunst des 20. Jahrhunderts" (1926) einen Namen gemacht. Bereits 1928 war er nach Frankreich emigriert, wo er sich in der Folgezeit in dem erst 1973 aus dem Nachlaß veröffentlichten Manuskript "Die Fabrikation der Fiktionen" in beißender Schärfe mit der Figur des modernen Intellektuellen auseinandersetzte. Für Einstein war sein Engagement auf Seiten der Anarchosyndikalisten mit der Hoffnung verbunden, im Prozeß der sozialen Revolution einer die von der sozialen Realität abgetrennten Erfahrungen des Intellektuellen transzendierenden kollektiven Welterfahrung beizuwohnen. In dem hierzulande bisher unbekannten, von Reinhold Görling übersetzten, eingeleiteten und kommentierten Interview, das Sebastià Gasch mit Carl Einstein geführt und im Mai 1938 in der katalanischen Zeitschrift "Meridià" veröffentlicht hat, kommen beide Aspekte zum Ausdruck: die Kritik an der funktionalen Belanglosigkeit des Intellektuellen und die Hoffnung auf Erfahrungen, in denen eine neue Kollektivität durchschimmert. Im Juli 1940, mehr als ein Jahr, nachdem er Spanien verlassen mußte, hat sich Carl Einstein auf der Flucht vor seinen deutschen Landsleuten in Südfrankreich das Leben genommen.
Robert Bek-gran ist in seinem Leben zweimal in besonderer Weise publizistisch hervorgetreten. Zum einen mit der 1920 in Nürnberg erschienenen Broschüre "Vom Wesen der Anarchie", die jahrelang von den unterschiedlichsten Autoren Ret Marut alias B. Traven zugeschrieben wurde und zum anderen mit der von ihm 1938/39 in New York herausgegebenen Zeitschrift "Gegen den Strom". Ulrich Linse und Michael Rohrwasser unternehmen in ihrem Beitrag einen ersten Versuch, Leben und Wirken Robert Bek-grans nachzuzeichnen, soweit dies die nur spärlich vorliegenden Materialien zulassen. Bek-gran gehörte zu jenen Intellektuellen, die durch das Erlebnis des Weltkrieges und die revolutionären Nachkriegsereignisse politisiert wurden, ohne ihre Hoffnungen auf einen grundlegenden Umsturz der Verhältnisse in den Programmen der politischen Parteien und Organisationen aufgehoben zu sehen. Eingebunden in das organisatorische Spektrum der linksbürgerlichen Jugendbewegung und einem stark kulturkritisch orientierten Anarchismus verpflichtet, zog Bek-gran mit seiner frühen Emigration in die Vereinigten Staaten die Konsequenz aus einer ihm nach der Ernüchterung der revolutionären Hoffnungen perspektivlos erscheinenden Situation. Mit seiner an einem unorthodoxen Sozialismus ausgerichteten Zeitschrift "Gegen den Strom", in der Autoren verschiedenster Provenienz zu Wort kamen und die ihrem Selbstverständnis nach sowohl antifaschistisch als auch antistalinistisch orientiert war, griff er noch einmal, wenn auch eher am Rande, in das politische Geschehen ein.
Karl Korsch, dessen die marxistische Dogmatik selbstkritisch reflektierende Schriften in den sechziger und siebziger Jahren wichtige Denkanstöße lieferten, gehört mittlerweile, nach den vielfach beschworenen Krisen des Marxismus, so scheint es zumindest, schon wieder zu den Vergessenen. Nicht zuletzt dies dürfte mit dazu geführt haben, daß der ohne Zweifel wichtige Nachlaß Korschs bisher weitgehend unveröffentlicht geblieben ist. Ein Hauptstück dieses Nachlasses bildet das Mitte der fünfziger Jahre im amerikanischen Exil abgefaßte "Buch der Abschaffungen". Zehn Jahre später, Mitte der sechziger Jahre, hatte der Korsch-Schüler Heinz Langerhans in einem bisher unveröffentlichten Manuskript die wesentlichen Gedanken aus Korschs Text, weitgehend in Zitatform, zusammengefaßt. Da mit einer Publikation von Korschs Originalmanuskript in absehbarer Zeit wohl nicht zu rechnen ist, mag die hier aus dem Nachlaß von Langerhans abgedruckte Zusammenfassung wieder auf einen der anregendsten marxistischen Denker aufmerksam machen und das Interesse an einer weiteren Beschäftigung wecken. Michael Buckmiller, Herausgeber der Gesamtausgabe von Korschs Schriften, skizziert in seinen vorangestellten Anmerkungen die Entstehungsgeschichte von Korschs Manuskript sowie den politischen und persönlichen Lebensweg von Heinz Langerhans.
Bei seinen Forschungen zur Geschichte anarchistischer und anarchosyndikalistischer Bewegungen in Dortmund sah sich Andreas Müller mit einem sicherlich nicht alltäglichen Geschehen konfrontiert. In Mengede, heute ein Stadtteil von Dortmund, damals noch eine eigenständige Gemeinde, hatte sich im Gefolge der großen Streikbewegungen seit 1919 eine starke Ortsgruppe der anarchosyndikalistischen "Freien Arbeiter Union" (FAUD) entwickelt. Nach vielfachen internen Streitigkeiten, in deren Verlauf sich eine eigenständige anarchistische Gruppierung herausbildete, kam es im Sommer 1921 zu einer Spaltung der Ortsgruppe. Dabei sollte es allerdings nicht bleiben: Einige der in der anarchosyndikalistischen FAUD sowie im anarchistischen "Freibund" Aktiven gehörten ein Jahr später zu den Mitbegründern einer der ersten Ortsgruppen der NSDAP außerhalb Bayerns. Den jeweils individuellen Motivationen dieser Wanderer zwischen zwei Welten heute noch nachzuforschen ist wohl kaum möglich; schließlich handelte es sich um Arbeiter, die über ihr Tun und Lassen nur in Ausnahmefällen schriftlich Rechenschaft gegeben haben. Man wird sich also weitgehend damit begnügen müssen, von diesem sicherlich überraschenden Faktum Kenntnis zu nehmen. Müller beschränkt sich in seinem Beitrag jedoch nicht auf die Darstellung dieser Wandlung scheinbar überzeugter Anarchosyndikalisten zu Nationalsozialisten, sondern entwirft auch ein recht plastisches Bild der vielfältigen Aktivitäten und Diskussionen an der Basis der damals einflußreichen anarchosyndikalistischen Bewegung.
Die letzten beiden Texte befassen sich mit Details aus jenem Kapitel deutscher Geschichte, das seit einiger Zeit wieder verstärkt in die Diskussion geraten ist und dabei auch Würdigungen ganz besonderer Art erfahren hat. Zu einer der lange Zeit verdrängten Erfahrungen des Alltagslebens in der Zeit des Nationalsozialismus gehörte der Einsatz der sogenannten Fremdarbeiter während der Kriegsjahre zwischen 1939 und 1945. Manfred Grieger rekonstruiert in seinem Beitrag den Einsatz dieser Zwangsarbeiter in Bochumer Industriebetrieben sowie Reaktion und Verhalten der Bochumer Bevölkerung, wobei er zwischen den eigentlichen Tätern und der weitgehenden Indifferenz der großen Bevölkerungsmehrheit differenziert.
Willy Buschak beschäftigt sich in seinem Text mit einem kaum bekannten Kapitel aus der Geschichte des Widerstandes gegen das nationalsozialistische Regime. Fritz Saar, vor 1933 Vorsitzender des eher auf dem rechten Flügel des ADGB angesiedelten "Zentralverbandes der Hotel-, Restaurant- und Caféangestellten", hatte, zusammen mit anderen Emigranten, von seinem Amsterdamer Exil aus die Widerstandstätigkeit des "Zentralverbandes" organisiert, wobei der Standpunkt vertreten wurde, daß die alten politischen Organisationen sich überlebt hätten; eine Erkenntnis, die allerdings auf wenig Gegenliebe stieß.
II.
"Hitler haben wir, wenn auch vielleicht nicht endgültig, bewältigt. Nicht bewältigt aber haben wir die Bewältigung Hitlers, wie sie zur Studentenrebellion 1968 und zu den fundamentalen Umwertungen der Folgezeit geführt hat. 50 Jahre nach der Machtergreifung ist Hitler für uns ein Gegenstand der Geschichte, unser Problem aber ist die Antwort auf ihn, wie sie in den sechziger Jahren gegeben worden ist. Die Wende, die wir benötigen, besteht nicht darin, daß wir ein weiteres Mal 1933 oder 1945 verdauen, sondern daß wir den nachträglichen Ungehorsam gegen Hitler überwinden. Wir haben uns geschichtlich von uns selbst entfremdet und müssen nun versuchen, diese Entfremdung aufzuheben."
(Ludolf Herrmann: Hitler, Bonn und die Wende, in: Die politische Meinung, 209/1983)
Seit gut einem Jahr macht eine sogenannte Historikerdebatte von sich reden, die einmal mehr in aller Deutlichkeit klar werden läßt, daß die bundesrepublikanische Gesellschaft nur adäquat zu analysieren ist, wenn sie als postfaschistische Gesellschaft betrachtet wird. D-em eher vordergründigen Anlaß der Auseinandersetzungen, der Frage nach der Einmaligkeit bzw. Vergleichbarkeit der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik liegt dabei ein tiefer reichendes und seit längerer Zeit wieder als aktuell gehandeltes Problem zugrunde: die Frage einer nationalen Identität, die auch in der Lage sein soll, historische Ereignisse wie den Nationalsozialismus in der Komplexität des Ganzen aufgehen und somit in gewisser Weise auch verschwinden zu lassen. Bereits 1982 hatte der als politischer Philosoph mit der verstaubten Begrifflichkeit vergangener Zeiten recht dilettantisch umgehende Bochumer Politikwissenschaftler Bernard Willms in der Vorbemerkung seines in national denkenden Kreisen wohl als Standardwerk geltenden Buches "Die deutsche Nation" festgehalten, "daß für die Deutschen nichts so notwendig ist wie ein neuer Nationalismus". Diese durchaus programmatisch zu verstehende Aussage ist nicht mehr und nicht weniger als die bewußte Zusammenfassung einer Tendenz, die in verschiedensten Unternehmungen, in denen sich ein wo auch immer zu verortendes Bedürfnis nach nationaler Geschichte und nationaler Identität artikuliert, einen Ausdruck findet. Dazu gehören nicht nur die zahlreichen großen historischen Ausstellungen der letzten Jahre, die dazu gewissermaßen als Begleitmaßnahmen zu sehenden schriftstellerischen Projekte einer Nationalgeschichte der Deutschen, schließlich die in Berlin und Bonn geplanten historischen Museen, sondern gerade auch die Debatte um den Stellenwert der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik, die auch längst den Rahmen einer rein akademischen Diskussion gesprengt hat.
In der Argumentation von konservativer und rechter Seite macht sich dabei ein eigenartiger Positionswechsel bemerkbar; wurde in der bisherigen konservativen Aufarbeitung des Nationalsozialismus dieser immer wieder als Einbruch eines Außergewöhnlichen, Einmaligen in die Kontinuität deutscher Geschichte angesehen - eine Betrachtungsweise, die mit der Verdrängungsleistung nach 1945 konform geht -, so findet jetzt geradezu eine Umkehrung dieser Argumentation statt. Durch eine teilweise bis zur Rechtfertigung gehende Historisierung, die über Vergleiche mit dem Stalinismus, mit dem Regime von Pol Pot oder dem Völkermord an den Armeniern angestrebt wird, zeichnet sich eine Relativierung nationalsozialistischer Verbrechen ab, die nicht zuletzt auch darauf abzielt, den "Fortbestand deutscher Kultur und Wertetradition selbst in der düstersten Epoche deutscher Geschichte" (Ludolf Herrmann) zu betonen und somit eine Kontinuität zu behaupten, der gegenüber Auschwitz als marginal erscheint. Diesem Denken stellt sich nicht mehr die Frage, wie Auschwitz trotz entwickelter kultureller Traditionen möglich war; man nimmt im Gegenteil positiven Bezug darauf, daß trotz Auschwitz "aus den Trümmern der Diktatur unverletzte Werte der deutschen Geschichte als rettendes Erbe gesichert wurden. Goethe, das Christentum, der philosophische Idealismus, die Familie, das Gemeinwohl, das alles präsentierte sich einer durcheinandergewirbelten Nation als geistige Heimat." Und eben diese deutschen Werte, ihre Gültigkeit "vor Hitler, trotz und gegen Hitler und nach Hitler" sollen wieder positiv erinnert werden: "Von einer Identität der Deutschen, von dem, was heute als Wirgefühl pathetisch gefordert wird, wird man erst dann wieder reden können, wenn diese Selbstbesinnung stattgefunden hat." (Ludolf Herrmann)
Alle Zeichen deuten darauf hin, daß sich die konservative Politisierung der Geschichte in einem Aufwind befindet, dem gegenüber gegenteilige Positionen im sogenannten Historikerstreit eher hilflos wirken. Gleich ob Habermas ein "nationales Selbstbewußtsein" oder einen "nationalen Lebenszusammenhang" im politisch-kulturellen Kontext der westlichen Aufklärungstradition verorten will, eine Prämisse, von der er glaubt, daß sie "bisher das offizielle Selbstverständnis der Bundesrepublik getragen" habe und die jetzt von der Rechten aufgekündigt werde, ob Hans Mommsen bedauert, daß neuerdings "die konstitutive Bedeutung der Erfahrungen der nationalsozialistischen Epoche für das historisch-politische Selbstverständnis der westdeutschen Gesellschaft schlicht geleugnet wird" oder ob Helga Grebing "einen Bruch des allgemeinen politisch-kulturellen Konsenses über die Ursprungsprägungen der Republik" befürchtet: Diesen Positionen liegt offensichtlich die volkspädagogische Absicht zugrunde, die Gründung und frühe Ausgestaltung des bundesrepublikanischen Staats- und Gesellschaftssystems als auf einem allumfassenden antifaschistischen Konsens beruhend erscheinen zu lassen, wobei die vielfältigen Kontinuitäten zwischen nationalsozialistischem und bundesrepublikanischem Deutschland doch wahrlich keine Geheimnisse darstellen. Man kann sich fast des Eindrucks nicht erwehren, daß diese defensive Argumentation ein neues Kapitel in der Geschichte des "hilflosen Antifaschismus" darstellt. Die Argumentationsstränge haben sich merkwürdig verschoben: Während man im konservativen und rechten Lager damit beschäftigt ist, den positiven Bezug zu den "tausend Jahre(n) heiler Geschichte jenseits des Nationalsozialismus" herzustellen, sehen sich ihre Kontrahenten, denen die den Nationalsozialismus mitverantwortenden und über ihn hinausreichenden Kontinuitätsströme deutscher Geschichte sicherlich kein Geheimnis sind, plötzlich vor die mißliche Aufgabe gestellt, die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Verbrechen zu betonen.
In seinen vor Jahresfrist im rechtsradikalen Hohenrain Verlag unter dem Titel "Identität und Widerstand" erschienenen "Reden aus dem deutschen Widerstand" hat der bereits zitierte und im akademischen Milieu durchaus anerkannte Bernard Willms, dessen Ambitionen offensichtlich darauf hinauslaufen, sich als dritter Mann zu seinen immer wieder beschworenen Vordenkern Thomas Hobbes und Carl Schmitt zu gesellen, einen "Imperativ" aufgestellt, der im Nachhinein wie eine einleitende Absichtserklärung der rechten Fraktion der am sogenannten Historikerstreit Beteiligten erscheint: "Die Deutschen müssen die 'Vergangenheitsbewältigung' zu einer Sache der Wissenschaft neutralisieren." Schon seit Jahren hat sich in der Bundesrepublik eine bisher kaum zur Kenntnis genommene intellektuelle Rechte etabliert, die auf unterschiedlichsten Ebenen dabei ist, ideologische Akzente zu setzen und für überholt geglaubte politische Positionen wieder diskutabel zu machen. In einem redaktionellen Beitrag in der zweiten Ausgabe des theoretischen Organs der Thule-Gesellschaft "Elemente zur Metapolitik" bedient man sich dabei ganz ungeniert der Überlegungen Antonio Gramscis zum organischen Intellektuellen, um das eigene politisch-strategische Verhalten auf den Begriff zu bringen: "Gramsci schlägt die Bildung einer sogenannten Avantgarde des Geistes vor, als Grundlage für die künftige Avantgarde der politischen Partei. Die organischen Intellektuellen verfolgen das Ziel, eine Umwälzung der herrschenden Werte herbeizuführen, um ihre eigenen Anschauungen durchsetzen zu können. Diese Bemühung muß folglich umfassenden Einfluß gewinnen, also auf allen kulturellen Ebenen zur Wirkung kommen, in Dichtung, Theater, Volksmusik, Film, Bildender Kunst, Presse und anderen Bereichen. Was das Thule-Seminar mit den Auffassungen Gramscis verbindet, sind die theoretischen Grundlagen einer metapolitischen Strategie." Unabhängig davon, ob und inwieweit die inhaltlichen Positionen der Autoren des Thule-Seminars im rechten Lager auf Zustimmung stoßen, läßt sich doch behaupten, daß die hier formulierte Strategie Vorgehensweise und Selbstverständnis der sich formierenden intellektuellen Rechten recht präzise beschreibt.
Die als Wende apostrophierte Regierungsübernahme in Bonn kann in diesen Kreisen allenfalls ein müdes Lächeln auslösen. So hat bereits 1985 der der CSU nahestehende Günter Rohrmoser das Scheitern der Politik der Wende konstatiert und "der ausgebliebenen geistigen Wende" nachgetrauert. In Hinsicht auf den angestrebten geistigen und kulturellen Transformationsprozeß erscheint es dann schon eher angebracht - so Hans-Dietrich Sander in seinem bereits 1980 erschienenen Buch "Der nationale Imperativ" - "propädeutische Überlegungen zum Vierten Reich" anzustellen. Als zentrales Problem der Neuen Rechten, und hier sind die Grenzen zu etablierten Parteien längst fließend geworden und reichen teilweise bis ins grün-alternative Lager, hat sich die Frage der nationalen Identität herauskristallisiert. Nur im Kontext dieser Suche nach einer deutschen Identität läßt sich das Ereignis, das als Historikerstreit - zumindest im rechten Lager - nicht mehr als einen Mosaikstein in einem viel weiter und tiefer reichenden Diskussionsprozeß bildet, adäquat einordnen und verstehen. Helga Grebing hat mittlerweile das Stichwort von der "konservativen Revolution" in die Debatte geworfen und Arno Klönne, der im Hinblick auf die Entwicklungen und Tendenzen in der Neuen Rechten als wohl informiert gelten darf, hat, schon eindeutiger, darauf hingewiesen, daß "die kulturrevolutionär gesonnene Neue Rechte in der Bundesrepublik" bei ihrem "Krieg um die Köpfe... vornehmlich auf die Überlieferungen der vorfaschistischen konservativen Revolutionäre zurück(greift)" und daran die Warnung angeschlossen: "Wer die philosophischen Vorräume des historischen Faschismus kennt, der weiß, was sich hier anbahnt."
Interessanterweise hat sich im gleichen Zeitraum, in dem die Frage einer nationalen Identität der Deutschen in immer stärkerem Maße die historischen und politischen Diskussionen bestimmte, eine gewissermaßen gegenläufige Tendenz in der Geschichtsforschung entwickelt, die von der Betrachtung großer historischer Linien absieht, stattdessen ins Alltagsleben abtaucht und Geschichte von unten ins Auge faßt.
"Durch die Geschichtslandschaft der Bundesrepublik weht ein frischer Wind": Mit dieser emphatischen Selbsteinschätzung beginnen Hannes Heer und Volker Ullrich ihre Betrachtung über "die 'neue Geschichtsbewegung' in der Bundesrepublik" in dem von ihnen herausgegebenen Sammelband "Geschichte entdecken", in dem diese von ihnen gemeinte Geschichtsbewegung zu einer wohl als repräsentativ zu betrachtenden Selbstdarstellung gefunden hat. So stellen Heer/Ullrich der von ihnen allerorten aufgespürten "Aneignung bzw. Integration von Geschichte in einen radikal-demokratischen Lebenszusammenhang" in einem für politisch argumentierende Historiker grandiosen Miß- bzw. Unverständnis die "Flucht in eine von neokonservativen Historikern umgedeutete Vergangenheit" gegenüber. Welche Motive bei diesen "neokonservativen" Historikern auch immer eine Rolle spielen mögen, eine Blauäugigkeit, wie sie bei Heer/Ullrich zu beobachten ist, kann man ihnen jedenfalls nicht unterstellen; die angebliche "Flucht in die Vergangenheit" ist alles andere als dies. Schon bei dem auch von ihnen zitierten Ludolf Herrmann hätten Heer/Ullrich eine Bemerkung zur Kenntnis nehmen können, die allerdings nicht mehr als eine Plattitüde ist und manch einem kritischen Alltagshistoriker möglicherweise als wenig beachtenswert erscheint: "Die Auseinandersetzung um die Geschichte ist in Wirklichkeit eine Auseinandersetzung um die Gegenwart und die Zukunft." Auch der von ihnen beispielhaft erwähnte Nationalhistoriker Michael Stürmer ist mit seiner Geschichtsschreibung durchaus nicht auf der "Flucht in die Vergangenheit", sondern ist sich ganz im Gegenteil der Tatsache bewußt, daß "die Zukunft gewinnt, wer die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet".
Während von konservativer bis rechtsradikaler Seite ein im Einzelnen sicherlich differenziert zu betrachtender, dabei jedoch auf einige wenige übereinstimmende Themenbereiche konzentrierter Versuch gestartet worden ist, die intellektuelle Hegemonie wiederzugewinnen, die man in den fünfziger Jahren besessen und in den sechziger und frühen siebziger Jahren weitgehend verloren hatte, läßt eine links-alternative Geschichtsschreibung in einer als selbstkritisch titulierten Absage an die eigene Vergangenheit, in der man, statt sich in analytisch-kritischer Absicht mit der Geschichte und den Traditionen der Arbeiterbewegung zu beschäftigen, in veraltete Kostüme längst überlebter Lebensweisen geschlüpft war, jegliche hegemoniale Absichten vermissen.
Es ist im Zusammenhang mit dem sogenannten Historikerstreit von Hans Mommsen zurecht bemerkt worden, "daß sich in dem Schlagabtausch die jüngere Historikergeneration kaum zu Wort gemeldet hat". Es mag sein, daß in diesem offensichtlichen Desinteresse zum Ausdruck kommt, daß der Streit sich um Angelegenheiten und Begriffe dreht, die für diese Historikergeneration nicht nur uninteressant erscheinen, sondern in gewisser Hinsicht auch als weitgehend erledigt gelten. Es mag aber durchaus auch sein, daß sich die junge Historikergeneration mittlerweile dermaßen im Alltag ganz weit unten verloren oder eingerichtet hat, daß sie einfach nicht mehr mitbekommt, wie dieser Alltag mit einem ideologischen Brei überdeckt wird, unter dessen Hülle sich vielleicht sogar ganz gut überleben läßt. Das aber wirft die notwendige Frage auf, inwieweit sich Identitätssuche und -stiftung im Alltag mit Identitätsstiftung auf nationaler Ebene verträglich machen läßt. Die Liebe zum Alltag, zu den kleinen Leuten und den kleinen Dingen und zur Heimat auf der einen Seite und die Reaktivierung einer griffig präsentierten nationalen Identität auf der anderen Seite - wieso sollten diese auf den ersten Blick vielleicht ungleichen Aspekte sich nicht zu einem runden Ganzen verbinden lassen. Auf der Ebene der Sinnstiftung jedenfalls, der sie ja doch verhaftet sind, könnten beide Aspekte schon zueinanderkommen.
Der mittlerweile weitgehend zu einer leeren Worthülse verkommene Begriff einer "Geschichte von unten" muß, soll er nicht im Beliebigen stecken bleiben, inhaltlich gefüllt werden. Es kann sich dabei jedenfalls nicht darum handeln, sich auf formaler Ebene von der Parteitags- oder Ideengeschichte zu verabschieden und sich stattdessen mit der Geschichte von irgendwelchen mehr oder weniger zufällig herausgegriffenen regionalen oder lokalen Partei- oder Gewerkschaftsorganisationen zu beschäftigen. Daß Historiker(innen) beschäftigt sein wollen, daß der Markt gefüttert werden will, mag seine Ordnung haben: Mit "Geschichte von unten" im Sinne einer Aufarbeitung und gegebenenfalls Anknüpfung an verschüttete, verdrängte oder bewußt unterdrückte Ideen und Lebensentwürfe - gleich ob es sich dabei um solche von sogenannten großen oder kleinen Leuten handelt - muß dies allerdings nicht unbedingt etwas zu tun haben. Es ist ein fataler Irrtum zu glauben, daß historische Sinnstiftung - und mit Sinnstiftung hat es Geschichtsschreibung, ob gewollt oder nicht, immer zu tun - sich auf eine in den Traditionen des Historismus bewegende Aneinanderreihung von Details und Fakten reduzieren läßt. Und gerade die teilweise schwärmerische Aufarbeitung der doch zumeist eher traurigen und beschränkten Alltagserfahrungen der sogenannten kleinen Leute kündet eher vom Katzenjammer einer sich von eben diesen kleinen Leuten im Stich gelassen fühlenden linken Intelligenz, die mit globalisierenden Weltmodellen sich nicht mehr anfreunden kann oder will. Einer selbstreflexiven historischen Sinnsuche gerät immer mehr in den Blick als bloßer Alltag; es ist vielfach gerade der Alltag, der mit Hilfe dieser Sinnsuche transzendiert werden soll. So wie die normative Kraft religiöser Sinnstiftungen nicht durch die Erkenntnis, daß es sich dabei um Opiate handelt, aus der Welt geschafft worden ist, so wird die Suche und die Sucht nach historischer Sinnstiftung sich nicht dadurch umgehen lassen, daß eine zu kritischer Selbstreflexion eigener Traditionen unfähige Linke vor lauter kleinen Alltagsbegebenheiten den Überblick verliert und den Kopf in den Sand steckt. Das offensichtlich existente Bedürfnis nach einer über das Alltagsleben hinausreichenden Sinnstiftung aber zu ignorieren, statt es kritisch zu reflektieren, bedeutet nichts anderes, als den Platz zu räumen für Sinnstifter, die keine Skrupel haben, ihre Chance zu nutzen.
Geschichtsschreibung aber, die politisch sein will, zieht sich nicht ins stille und gesicherte Kämmerlein zurück, sondern lebt aus der Betrachtung von Geschichte unter den Zeichen von Katastrophe und Utopie - beides nicht als eindimensionale Bilder, vor denen man in unterschiedlichem Sinne erschauern kann, sondern als eine Dialektik von großen und kleinen Ereignissen, die zusammen erst ein Ganzes ergeben und zugleich ein Aufgehobensein in der Gegenwart nicht zulassen.
Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit - Reihentiteleintrag