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Die internationale Sprache Esperanto ist eine Plansprache, die von vornherein für die internationale Verständigung geschaffen wurde. Unter den etwa 1.000 bekannten Plansprachenentwürfen hat sich Esperanto als einzige in der über 100jährigen Praxis bewährt. | Die internationale Sprache Esperanto ist eine Plansprache, die von vornherein für die internationale Verständigung geschaffen wurde. Unter den etwa 1.000 bekannten Plansprachenentwürfen hat sich Esperanto als einzige in der über 100jährigen Praxis bewährt. | ||
Version vom 4. Februar 2007, 01:32 Uhr
Die internationale Sprache Esperanto ist eine Plansprache, die von vornherein für die internationale Verständigung geschaffen wurde. Unter den etwa 1.000 bekannten Plansprachenentwürfen hat sich Esperanto als einzige in der über 100jährigen Praxis bewährt.
Inhaltsverzeichnis
- 1 Definition
- 2 Ideenhistorische Entwicklung
- 3 Esperanto und Anarchismus
- 4 Repressalien
- 5 Stellenwert des Esperanto innerhalb des libertären Spektrums
- 6 Gesamtgesellschaftliche Relevanz
- 7 Zusammenfassung und Kritik
- 8 Literatur u. Quellen
- 9 Weitere bibliographische Angaben sind von folgender Stelle erhältlich:
- 10 Sammlung von Internetadressen:
- 11 Lehrbücher, Wörterbücher, Buchkataloge
- 12 EsperantoLand e.V.
Definition
Im Juli 1887 veröffentlichte der junge jüdische Augenarzt Lazarus Ludwig Zamenhof (1859-1917) unter dem Pseudonym “Dr. Esperanto” in Warschau unter den Augen der misstrauischen Zensur sein erstes Lehr- und Übungsbuch der “Internacia Lingvo” in russischer Sprache, dem noch im gleichen Jahr Ausgaben in polnischer, französischer und deutscher Sprache folgten. In der “Internationalen Sprache” von L. L. Zamenhof bedeutet “Esperanto” “ein Hoffender” und L. L. Zamenhof hoffte, mit der Schaffung der internationalen Sprache zur Völkerverständigung und zum Weltfrieden beizutragen. Das Wort “Esperanto” wurde bald zur Bezeichnung dieser Sprache. Dank seiner Regelmäßigkeit und Flexibilität ist Esperanto relativ leicht zu lernen. Die Schrift ist phonemisch, d.h. es gibt ein Eins-zu-eins-Verhältnis von Schrift und Aussprache. Die Rechtschreibung ist regelmäßig. Die Grammatik ist nahezu ausnahmefrei. Vielseitig verwendbare Vor- und Nachsilben tragen zur hohen Genauigkeit und Ausdruckskraft der Sprache bei. Der Wortschatz beruht zum größten Teil auf lateinischen und germanischen Stämmen, die in vielen Sprachen weit verbreitet sind. Der übliche Eindruck, wenn man Esperanto hört, ist, dass es wie Italienisch oder Spanisch klingt. Die europäische Herkunft der Wörter macht zwar Esperanto etwa für ChinesInnen schwieriger als für Deutsche, aber absolut gesehen finden ChinesInnen Esperanto ziemlich leicht, jedenfalls viel leichter als Englisch. Dies liegt am ausgedehnten Gebrauch von Zusammensetzungen und Ableitungen, deren Sinn leicht erschließbar ist, was mit dem “agglutinierenden” Charakter der Sprache zusammenhängt – Wortteile können an den unveränderten Wortstamm frei angehängt werden. Diese ist eine prägende Eigenschaft mancher Sprachen, wie etwa der Turksprachen. Heute hat die lose Esperanto-Sprachgemeinschaft bis zu einer Million Sprecher. Es gibt Zehntausende von Büchern in Esperanto (größtenteils Originalliteratur) und es erscheinen regelmäßig mehrere hundert überwiegend kleinere Zeitschriften, viele davon weltweit verbreitet. Es vergeht kaum ein Tag ohne internationale Zusammenkünfte wie Tagungen von Fachverbänden, Konferenzen, Jugendbegegnungen, Seminare, Ferienwochen und regionale Treffen in allen Teilen der Welt. Mehrere Rundfunkstationen senden Programme in Esperanto, teilweise sogar täglich, und die Sprache ist im Internet gut vertreten. Esperanto wird gelegentlich alltägliche “Familiensprache” bei Paaren unterschiedlicher Herkunft, und deren Kinder sprechen es als Muttersprache. Esperanto entwickelt sich fort und passt sich den wechselnden Bedürfnissen seiner Sprechergemeinschaft an – wie jede andere lebende Sprache auch – durch lexikalische Entlehnung und Begriffsbildung aus den bereits vorhandenen sprachlichen Mitteln, ohne seine relative Einfachheit zu verlieren. Denn begriffliche Differenziertheit und Ausdrucksfähigkeit einer Sprache hängen nicht von ihrer Entstehungsgeschichte oder von immanenten Faktoren der Sprache ab, sondern entstehen ausschließlich aus den Kommunikationsbedürfnissen ihrer Sprechergemeinschaft. Die Begriffe “Hilfssprache” bzw. “Kunstsprache” werden oft in Bezug auf Esperanto verwendet. Bei Menschen, die den tatsächlichen Umfang der praktischen Anwendung von Esperanto nicht kennen, erwecken diese Begriffe manchmal die irrige Vorstellung einer primitiven, ausdrucksarmen Sprache, deren Gesamtbestand von der intellektuellen Leistungskraft ihres “Schöpfers” bestimmt ist und womöglich gar zwischen zwei Buchdeckel passt. Den meisten Esperanto-SprecherInnen war seit jeher bewusst, dass eine für alle kommunikativen Bedürfnisse des menschlichen Daseins taugliche Sprache nur in einem kollektiven Prozess entstehen kann. Esperanto ist ebenso wenig “aus dem Nichts” entstanden wie z.B., Haiti-Kreolisch. Eine Sprache tritt dann auf, wenn sie einem Bedürfnis entspricht.
Ideenhistorische Entwicklung
Zusammen mit Esperanto als Verständigungssprache propagierte L. L. Zamenhof einen quasi-religiösen “Homaranismus” (etwa: Menschen- und Menschheitsliebe) des Esperanto. Diese recht diffuse Idee basiert auf liberal-humanistischem Gedankengut, z.B. auf der Vorstellung, dass die ganze Menschheit “eine Familie” ist, die wieder den Weg zu sich finden müsste; oder der Vorstellung, dass alle “Weltreligionen” einen gemeinsamen Ursprung haben und miteinander in Einklang gebracht werden könnten. Diese Idee wird von manchen Esperanto-SprecherInnen als interessant empfunden und verschiedentlich ausgelegt, doch viele Esperanto-SprecherInnen dürften wiederum mit der “Menschenliebe” zamenhofscher Art nicht viel anfangen können. Nach der Veröffentlichung des Projektes 1887 in Warschau verbreitete sich Esperanto sehr rasch, zunächst vor allem im russischen Raum. Eines der ersten literarischen Werke in der neuen Sprache (neben L. L. Zamenhofs eigener reger literarischer und übersetzerischer Tätigkeit) war “En la tombo” (Im Grab) von Nikolaj Borovko, geschrieben 1892, das von der Qual eines lebendig Begrabenen handelt. Der christliche Anarchist Leo N. Tolstoj sprach sich eindeutig für Esperanto aus. Diese “russische Periode” endete 1895 abrupt, nachdem die einzige Esperanto-Zeitschrift einen Artikel von L. N. Tolstoj veröffentlicht hatte, woraufhin sie durch die zaristische Zensur verboten wurde. Es folgte dann eine “französische Periode” mit dem ersten internationalen Esperanto-Kongress 1905 in Boulogne-sur-Mer (mit 688 Teilnehmern aus 20 Ländern). Dort tritt L. L. Zamenhof als treibende Kraft der Bewegung offiziell zurück: über die Fortentwicklung der Sprache soll fortan die Esperanto-Bewegung selbst entscheiden. 1905 gründete der Anarchist Paul Berthelot die heute noch erscheinende Zeitschrift “Esperanto”. 1908 gründete Hector Hod1er die “Universala Esperanto-Asocio” (UEA, Esperanto-Weltbund), der bis heute die meisten Esperanto-Organisationen der Welt bündelt. Der Sitz der UEA ist in Rotterdam. Bis zum Ersten Weltkrieg entwickelte Esperanto eine starke Anhängerschaft in Frankreich. Von dort aus konnte es sich in die Welt ausbreiten, vor allem nach Japan und China. In Prag entstand 1921 auf Anregung von Eugène Adam (Spitzname: Lanti) eine Esperanto-sprachige Bewegung mit emanzipatorischer Zielsetzung und nationenunabhängiger Struktur: die Sennacieca Asocio Tutmonda (SAT = Nationenunabhängiger Weltbund), der erheblich dazu beigetragen hat, die gesellschaftlich-kulturelle Basis der Sprache auszuweiten. Der Sitz der SAT ist in Paris, (s. auch “Esperanto und Anarchismus”). Eine erneute Blütezeit dauerte je nach den Bedingungen in den verschiedenen Ländern 10 bis 15 Jahre: so gab es auch eine “ungarische Phase”, die Budapest einige Jahre lang zur “kulturellen Hauptstadt“ des Esperanto” (Spomenka Štimec, “Tibor Sekelj, Pioniro de la dua jarcento”, Wien 1989) werden ließ. Aber das Heraufkommen totalitärer und kriegerischer Regimes, das zum Zweiten Weltkrieg und anschließend zum “Kalten Krieg” führte, stoppte diesen Neuaufschwung für mehrere Jahrzehnte. Insbesondere nach dem Krieg lief der Expansionismus der angloamerikanischen Sprache und Kultur auf Hochtouren, mit dem Ergebnis, dass Esperanto weniger beachtet wurde. Zum ersten Mal 1954, dann erneut 1985, erkannte die UNESCO-Vollversammlung den Wert des Esperanto für den internationalen intellektuellen Austausch an. Im September 1993 nahm der Weltkongress der Schriftstellervereinigung PEN das Esperanto-PEN-Zentrum (der Esperanto-sprachigen SchriftstellerInnen) als Mitgliedsverband auf und erkannte Esperanto somit als Literatursprache an. Die weltweite Verbreitung des Esperanto ist ungleichmäßig: trotz Fortschritten in den letzten Jahren ist es in vielen Ländern Afrikas und Asiens kaum vertreten. Die Esperanto-SprecherInnen wohnen mehrheitlich in Europa. Die Entwicklung in einzelnen Ländern (China, Iran, Togo, ehem. Zaire) ist zeitweise phänomenal gewesen, wobei andere Länder allerdings weiterhin gar keine organisierte Esperanto-Bewegung aufweisen können. Eine besonders aktive Rolle in der Esperanto-Bewegung spielt die UEA-Jugendorganisation TEJO. Ebenso wie der Esperanto-Weltbund UEA organisiert sie jährliche Kongresse und zahlreiche andere Treffen (besonders zu erwähnen sind die von der Deutschen Esperanto-Jugend ausgerichteten “Internationalen Seminare” zum Jahreswechsel). Die Entwicklung des Esperanto verfolgt ein Gremium, die sog. Akademie des Esperanto. Die Aufgabe der Akademie ist es, für die Weiterentwicklung der Sprache im Einklang mit dem “fundamento”, der von L. L. Zamenhof erarbeiteten Grundlage, zu sorgen. Die Beschlüsse der Akademie haben keinen bindenden Charakter, sondern sind eher Richtlinien, die die Kraft einer wohlüberlegten Empfehlung besitzen. Tatsächlich hinkt die Akademie oft den Entwicklungen in Esperanto hinterher oder kann in manchen Punkten wegen interner Meinungsunterschiede keine einhellige Empfehlung geben. Manchmal wird der Einwand vorgebracht, Esperanto sei sexistisch, weil – so lautet eine oberflächliche Analyse – alle weiblichen Formen von den männlichen abgeleitet werden. Auf den ersten Blick ist etwas wahres daran, denn bei Personenbezeichnungen in Esperanto kann eine weibliche Form tatsächlich immer durch das Anfügen von “-in-” von der Grundform gebildet werden, z.B. laboristin-o = Arbeiterin. Obwohl das Grundgerüst der Sprache nicht sexistisch ist, bleibt doch anzumerken, dass der tatsächliche Sprachgebrauch von Esperanto in einer patriarchalen Gesellschaft durchaus sexistisch ausfällt. So werden bestehende Möglichkeiten für die männliche Personenbezeichnungen selten gebraucht, da die Grundform meist als männlich angesehen wird; somit liegt der Kritikpunkt nahe, dass alle weiblichen Formen von den (scheinbar) männlichen abgeleitet werden. Um den sprachlichen Sexismus abzubauen, gilt es sowohl in Esperanto als auch im Deutschen bewusster mit der Sprache umzugehen!
Esperanto und Anarchismus
AnarchistInnen waren mit unter den Pionieren in der Verbreitung von Esperanto. 1905 wurde in Stockholm die erste anarchistische Esperanto-Gruppe gegründet. Es folgten viele andere: in Bulgarien, China und anderen Ländern. So konnte sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg z.B. ein reger Briefwechsel zwischen europäischen und japanischen AnarchistInnen entwickeln. In Deutschland fand Esperanto vor allem in den Jahren zwischen 1920 und 1933 in der Arbeiterbewegung breite Anwendung. Im August 1932 hatte der deutsche Arbeiter Esperanto-Bund 4.000 Mitglieder – nicht umsonst wurde Esperanto liebevoll auch das “Arbeiterlatein” genannt. Die Arbeiter-Esperanto-Bewegung entwickelte einen vielseitigen internationalen Austausch: “Die Arbeiter-Esperantisten gehörten meist auch den damaligen partei-, kultur- und sozialpolitischen Bewegungen an. Sie sahen es als ihre Aufgabe an, im Sinne der entsprechenden Verbände im internationalen Rahmen, die internationale Sprache Esperanto nutzbar werden zu lassen (...). Bei den Arbeiter-Olympiaden hatte Esperanto eine wichtige Funktion als Verständigungsmittel verschiedensprachiger Völker. Darüber hinaus stand Esperanto im Dienste der Kulturvereinigungen aller politischen und gewerkschaftlichen Richtungen der Arbeiterbewegung, wie z.B. Arbeiter-Turn- und Sportbund, Arbeiter-Samariter-Bund (...) u.v.a.m.” (“Illustrierte Geschichte der Arbeiter-Esperanto-Bewegung", S. 66). Im August 1921 trafen sich in Prag 79 ArbeiterInnen aus 15 Ländern. Sie gründeten die bereits erwähnte SAT, eine auch heute bestehende Organisation antinationalistischer Linke. Ihren Höhepunkt erreichte die SAT in den Jahren 1929-1930. Damals hatte sie 6.524 Mitglieder in 42 Ländern, 2007 sind es weniger als 1.000 Mitglieder. Die Gründung der SAT und deren anfangs konsequente Abschottung gegenüber der bürgerlichen Esperanto-Bewegung war Ergebnis der allgemeinen politischen Entwicklung jener Zeit, die auch durch den damals doktrinär gehandhabten politischen Neutralismus der bürgerlichen Esperanto-Bewegung begünstigt wurde. Im März 1925 begrüßte eine “Berliner Gruppe anarcho-syndikalistischer Esperantisten” den in Amsterdam stattfindenden II. Kongress der Internationalen Arbeiter-Assoziation (IAA). Sie sprach davon, dass Esperanto in den Reihen der deutschen IAA-Sektion FAUD “schon derart Fuß gefasst hat, dass sie jetzt eine Weltorganisation von EsperantistInnen auf freiheitlich-antiautoritärer Grundlage gebildet hat”. Das ist vermutlich eine Anspielung auf die TLES (etwa: Weltweite Liga Staatenunabhängiger EsperantistInnen), die in den 20er Jahren gegründet wurde, da die SAT anfangs stark kommunistisch beeinflusst war. Anscheinend ging die TLES später in der SAT auf. Besonders stark war die ArbeiterInnen-Esperanto-Bewegung in Deutschland und der UdSSR. Unter anderem wurde 1923 in der sowjetischen Ukraine die “Wissenschaftliche Anarchistische Bibliothek der Internationalen Sprache” (ISAB) gegründet, die Pjotr Kropotkins “Ethik”, Alexej Borowojs “Anarchismus” und andere Werke für eine internationale Leserschaft auf Esperanto herausgab. Anarchistische EsperantistInnen entfalteten ihre Aktivitäten in dieser Zeit nicht zuletzt im fernen Osten. So gab ab 1913 in China Liu Shifu (Spitzname: Sifo) die Zeitung “La Vocho de l’ Popolo” heraus. Esperanto spielte eine bescheidene Rolle in den Internationalen Brigaden während des Spanischen Bürgerkriegs (1936-1939).
Repressalien
In der Geschichte des Esperanto kam es neben Behinderungen und Verunglimpfungen auch zu Verboten und Verfolgungen. Esperanto wurde von verschiedenen Regimes als “gefährliche Sprache” angesehen (s. Literaturhinweise): Schon 1895 wurde die Einfuhr der Zeitschrift “Esperantisto” ins zaristische Russland verboten; 1922 wurde der Esperanto-Unterricht an französischen Schulen untersagt; 1935 wurde in Deutschland der Esperanto-Unterricht (fakultativ an den sog. “freien Schulen”) verboten; 1936 wurde Esperanto in Deutschland und Portugal geächtet; 1937 begann die Liquidierung der sowjetischen Esperanto-Bewegung; ab 1938 wurde Esperanto in allen von Deutschland besetzten und “heimgeholten” Gebieten verboten. Durch diese Verbote und Verfolgungen wurde die Esperanto-Bewegung und damit die Verbreitung und Entwicklung der internationalen Sprache erheblich behindert und gehemmt. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg ging ein Neuanfang 1945 nicht glatt vonstatten. Unter stalinistischem Einfluss wurden 1949 die Esperanto-Gruppen in der DDR verboten, 1950 folgte das Verbot in Ungarn und 1952 in der Tschechoslowakei. Nach Stalins Tod kam es 1955 zur langsamen Wiederbelebung der Esperanto-Bewegung in Polen, Bulgarien, Ungarn, der Tschechoslowakei und der Sowjetunion, 1965 auch in der DDR, wo sich die Esperanto-Bewegung innerhalb des Kulturbundes organisieren konnte.
Stellenwert des Esperanto innerhalb des libertären Spektrums
Esperanto könnte für das libertäre Spektrum von großer Relevanz sein, denn im Gegensatz etwa zu Staaten und großen Konzernen, können basisdemokratische Gruppen und soziale Bewegungen keine Scharen von bezahlten SprachmittlerInnen unterhalten – sie müssen in aller Regel ohne DolmetscherInnen auskommen. Es ist viel sinnvoller, das knappe Geld für inhaltliche Projekte zu verwenden, statt es für die Bezahlung teurer Sprachendienstleistungen auszugeben (Diese Erkenntnis führt häufig dazu, dass gar keine kontinuierliche internationale Zusammenarbeit gepflegt wird). Die Machtverhältnisse bei gedolmetschter Quasi-Kommunikation erweisen sich aus anarchistischer Sicht auch als sehr problematisch. Hinzu kommt, dass bildungsmäßig weniger begünstigte Mitglieder basisdemokratischer Gruppen fast gänzlich von der internationalen Ebene der Arbeit ausgeschlossen sind, da sie meist keine ausreichende Fremdsprachenkenntnisse haben. Insgesamt stellt sich für Inter- bzw. AntinationalistInnen die durchaus praktische Frage, wie ein ungehindertes Miteinander zwischen Menschen unterschiedlicher Sprachen, das sonst kaum gewährleistet ist, gefördert werden kann. Für diesen Austausch hätte Esperanto gerade AnarchistInnen viel zu bieten. Tatsache ist aber, dass AnarchistInnen sich Esperanto wohl kaum intensiver als andere Bewegungen oder Bevölkerungsgruppen annehmen. Es gibt eine libertäre Fraktion innerhalb der SAT, die vierteljährlich das Bulletin “Liberecana Ligilo” (etwa: Libertäre Vernetzung) herausgibt. Durch die Veröffentlichung von Übertragungen aus unterschiedlichen Sprachen und verschiedenen libertären Strömungen können die jeweiligen Ideen ein kleines aber vielfältiges internationalistisches Publikum erreichen. In bezug auf die internationalen Verständigungsbarrieren beklagte sich ein in Deutschland lebender Anarchist: “Mehr oder weniger isoliert voneinander arbeiten und kämpfen (wir), ohne (uns) über Siege und Niederlagen auszutauschen, gegenseitig zu stützen und zu ermutigen. Ein wichtiger Bestandteil unserer Arbeit sollte sein, den überregionalen Kontakt zu Menschen mit ähnlichen Ideen und Zielen zu intensivieren, um wirksames solidarisches Handeln zu ermöglichen.” (“Graswurzelrevolution” Nr. 183, S. 13). Diese Beobachtung trifft den Kern der Sache: unsere Versuche, im internationalen Maßstab Solidarität zu üben und uns zu Vernetzen, bleiben meist in sehr bescheidenen Rahmen. Eine der Hauptursachen dafür ist das Problem der sprachlichen Verständigung. Wer in der internationalen libertären Presse liest, trifft relativ oft auf Klagen von Gruppen, die mit der fremdsprachigen Korrespondenz nicht zurecht kommen, internationale Treffen mit DolmetscherInnen nicht organisieren können usw. Zur Zeit beruht die internationale Zusammenarbeit anarchistischer, autonomer und basisgewerkschaftlicher Kräfte größtenteils auf der Nutzung zufällig vorhandener Sprachkenntnisse. Das funktioniert so: jemand in der Gruppe kann Sprache X, daher können Kontakte zu Leuten in bzw. aus der Region X aufgebaut werden. Diese Art, Kontakte zu knüpfen, ist spontan und organisch. Doch hat die oberflächliche “Pragmatik” dieses Zufallsprinzips die große Schwäche, dass Kontakte schnell abreißen, wenn die sprachbewanderten “Schlüsselpersonen”, aus welchen Gründen auch immer, nicht mehr zur Verfügung stehen. Auch in der Bundesrepublik werden die relativ verbreiteten Englischkenntnisse den Ansprüchen der internationalen Zusammenarbeit selten gerecht. Hier beruht eine Sprechfertigkeit im Englischen meist auf langen Jahren schulischen Pflichtunterrichts, der im wesentlichen auf der engen wirtschaftlichen und ideologischen Bindung der BRD zu den USA basiert. Dies ist nicht in allen Teilen der Erde so. Englisch ist eben nicht “die” internationale Sprache, sondern nur die verbreitetste Kolonial- bzw. Hegemonialsprache. Prozentual sind AnarchistInnen in der Esperanto-Bewegung, an Deutschland gemessen, nicht stärker vertreten als in der übrigen Bevölkerung. Ihre Stellung in der Esperanto-Bewegung als ganzer ist marginal. Gegenseitige Berührungsängste zwischen Esperanto-sprechenden AnarchistInnen einerseits und unpolitischen/“bürgerlichen” Esperanto-SprecherInnenn andererseits erschweren den Umgang. Der ausschließliche oder sehr weitgehende Gebrauch von Esperanto im libertären/anarchistischen Spektrum zu einem Zeitpunkt, wo Esperanto außerhalb von ihm so wenig verbreitet ist, wird nicht angestrebt. Esperanto könnte aber als zusätzliche Kommunikationsmöglichkeit wirklich angenommen werden, wenn in den Bewegungen das Verständnis für die Funktion von Sprachen und Sprachenwahl als Machtmittel von Staaten und wirtschaftlichen Interessen, sowie als soziales Auslesekriterium ausreichend anwächst.
Gesamtgesellschaftliche Relevanz
Für die Zusammenarbeit und Vernetzung über die Sprachbarrieren hinweg wäre es für verschiedenste Interessengruppen sehr nützlich, eine Verkehrssprache zu haben, die leicht zu erlernen und politisch neutral wäre. Hier sind die “großen” Sprachen wie Spanisch, Französisch, Englisch, Russisch und Chinesisch unzulänglich. Mit Esperanto können direkte Kontakte vielseitig entstehen, ohne dass man sich auf eine bestimmte Nationalsprache festlegt. Es soll betont werden, dass Esperanto mehr als ein relativ einfaches Kommunikationsmittel ist. Dadurch, dass es keinem “Volk” und keinem Staat “gehört”, und weil es nur wenige Esperanto-MuttersprachlerInnen gibt, kann niemand Besitzansprüche auf Esperanto erheben. Dies bedeutet in der Praxis ein großes Maß an kommunikativer Gleichberechtigung, die die reibungsvollen Dynamiken zwischen “allwissenden” MuttersprachlerInnen und mühgeplagten “Fremden” sprengt. Esperanto erlaubt somit ein weitestgehend gleichberechtigtes Miteinander, das viele Esperanto-Sprecher beflügelt. Falls dies nicht gleich nachvollziehbar ist, hilft vielleicht ein Vergleich: von ähnlicher Beschaffenheit ist z.B. die Euphorie derjenigen (meist gebildeten) Deutschen, die es einmal meistern, sich einigermaßen selbstbewusst auf Englisch zu behaupten. Sie bekommen dadurch das Gefühl, “mit der ganzen Welt reden zu können”. Nun nimmt Esperanto dieses Gefühl und die damit verbundenen konkreten Möglichkeiten einen Schritt weiter – es kann so viele unterschiedliche Türen öffnen, als hätte man neben Englisch gleichzeitig auch Spanisch, Russisch, Japanisch und manch eine andere Sprache gelernt.
Zusammenfassung und Kritik
Wie bereits erwähnt, wird Esperanto oft als “künstliche Sprache” im Gegensatz zu den als “natürlich” gedachten anderen Sprachen bezeichnet. Spätestens jedoch seit dem historischen Siegeszug des Nationalstaatsprinzips ist der Unterschied zwischen “künstlicher” und “natürlicher” Sprache kaum noch aufrechtzuerhalten. Denn die Sprache eines jeden Nationalstaates unterliegt einem starken Normierungsdrang. Sprachen wie Hochdeutsch oder Französisch werden bereits seit Jahrhunderten durch Gesetze, Erlasse und das Einwirken der Massenmedien genormt und geregelt. SchriftstellerInnen, ErzählerInnen und erfinderische Menschen aller sozialen Schichten wirken bewusst auf die Sprache ein. Die Maßstäbe von “natürlich” und “künstlich” werden verwischt. Und trotzdem hegen viele Menschen teilweise völkische Vorurteile von der Urwüchsigkeit und Überlegenheit der eigenen Sprache (oder auch anderer Nationalsprachen) über eine als “künstlich” empfundene und automatisch als minderwertig einzustufende andere. Es ist daher kein Zufall, dass “Esperanto” abwertend für ein bastardisiertes Sprachgemisch gehalten oder als Metapher für eine nach unten hin nivellierende Bestrebung missbraucht wird (vgl. “Esperanto-Europa” [Helmut Kohl]). Es muss betont werden, dass sich Esperanto seit 1887 zu einem erheblichen Teil spontan entwickelt hat. Eine interessante Analyse der unterschwelligen Ängste vor dem Esperanto liefert Claude Piron in seiner Studie “Psychologische Reaktionen gegenüber dem Esperanto”: “Esperanto (tritt) als Störenfried in eine Welt, wo jedem Volk eine Sprache zugeordnet ist und wo das Verständigungsmittel von den VorfahrInnen her als ein Ganzes weitergegeben wird, an dem kein Einzelner rühren darf, Esperanto zeigt, dass eine Sprache nicht das Geschenk vergangener Jahrhunderte zu sein braucht, sondern auch aus bloßer Konvention entstehen kann. Für Esperanto ist das Kriterium der Korrektheit nicht die Übereinstimmung mit seiner Autorität, sondern die kommunikative Wirksamkeit, und so verändert es die Art und Weise des Kommunizierens: wo eine vertikale Achse war, dorthin setzt es nun eine horizontale Achse. Damit rührt Esperanto an vieles, was in der Tiefe liegt und was man für Gewöhnlich nicht gerne ans Licht holt. Was wird z.B. aus der Rangordnung der Sprachen? Irisch, Niederländisch, Französisch und Englisch befinden sich im Bewusstsein vieler (...) nicht auf derselben Ebene. Wenn nun Verschiedensprachige, um sich untereinander zu verständigen, zu Esperanto greifen, wird jene Sprachen-Rangordnung ihre Grundlage verlieren” (“Psychologische Reaktionen gegenüber dem Esperanto”, S. 11). Dem Esperanto wird auch vorgeworfen, “eurozentrisch” zu sein. (Seltsamerweise kompromittieren sich solche KritikerInnen oft, indem sie etwa auf Englisch oder Spanisch als internationale Verständigungssprache setzen!) Diese Kritik hat einen wahren Kern: sprachwissenschaftlich gesehen ist Esperanto in vielen Hinsichten von den indoeuropäischen Sprachen geprägt. Auch ging Esperanto von Osteuropa aus und behält heute eine gewisse europäische Prägung durch die Tatsache, dass die Esperanto-SprecherInnen weiterhin mehrheitlich in Europa leben. Aber Esperanto hat verschiedene nicht(indo)europäische Impulse im Laufe seiner Entwicklung aufgenommen, wie verschiedene Angaben in diesem Beitrag belegen: etwa die starke Verankerung in Japan und China, die “Ungarische Periode”[[ ]] seiner Entwicklung, oder die “agglutinierende” Wortbildungseigenschaft des Esperanto, die für indoeuropäische Sprachen untypisch ist. Viele, die Esperanto unterstützenswert finden, verzichten aus pragmatischen Gründen darauf, Esperanto zu lernen. Sie nutzen ihre kostbare Freizeit statt dessen für das Lernen einer “großen” und vermeintlich praktischeren Sprache. Andere Esperanto-SympathisantInnen werden wiederum von einer Ohnmacht angesichts der Vormachtstellung des Englischen in der heutigen Welt davon abgehalten, sich dem Erlernen und dem aktiven Gebrauch der Sprache zu widmen. Es gehörte immer schon ein Stück Idealismus dazu, Esperanto zu lernen und zu pflegen. Es gibt auch Desinformation bezüglich der Esperanto-SprecherInnen, von denen geglaubt wird, sie hielten Esperanto für ein Allheilmittel gegen Konflikte und Kriege; außerdem trifft man auf das von PublizistInnen manchmal ausgestreute Gerücht, Esperanto sei tot, Spekulationen über die Zukunft des Esperanto sind müßig. Es soll hervorgehoben werden, dass es Esperanto gibt, dass die Esperanto-Bewegung zahlenmäßig stabil ist, und dass Esperanto rege (wenn auch im Weltmaßstab begrenzte) Anwendung findet. Auch unter AnarchistInnen.
Literatur u. Quellen
Benoît, P.; “Sprachwandel bei einer Plansprache am Beispiel des Esperanto”, Konstanz 1991 Blanke, D.; “Internationale Plansprachen, eine Einführung”, Berlin 1985 Eco, U.; “Die Suche nach der vollkommenen Sprache”, München 1994 Haupenthal R. (Hrsg.); “Plansprachen. Beiträge zur Interlinguistik”, Darmstadt 1976 Fritz-Hüser-Institut (Hrsg.); “Illustrierte Geschichte der Arbeiter-Esperanto-Bewegung”, Dortmund 1993 Janton, P.; “Einführung in die Esperantologie”, Hildesheim 1993 Kolbe, I.; “Zur Geschichte des Deutschen Arbeiter-Esperanto-Bundes in Leipzig”, (Westsachsen)”, Leipzig 1996 Lins, U.; “Die gefährliche Sprache”, Gerlingen 1988 Piron, C.; “Psychologische Reaktionen gegenüber dem Esperanto”, Wien 1992 Wells, J.C.; “Linguistische Aspekte der Plansprache Esperanto”, Saarbrücken 1987
Weitere bibliographische Angaben sind von folgender Stelle erhältlich:
Gesellschaft für Interlinguistik e.V. Otto-Nagel-Str. 110 12683 Berlin Tel.: 030 - 541 26 33, Fax: 030 - 545 67 42 http://www.interlinguistik-gil.de
Sammlung von Internetadressen:
http://www.interlinguistik-gil.de/internet.html#links
Lehrbücher, Wörterbücher, Buchkataloge
E.-D. Krause; “Kompaktwörterbuch Esperanto, Esperanto/Deutsch – Deutsch/Esperanto”, Langenscheidt, Berlin 1995, ISBN 3-324-00607-4 H. Mayer; “ESPERANTO. Eine Einführung in die moderne Umgangssprache”, Wien 1993 Z. Tišljar, S. Štimec u.a.; “Esperanto, Lehrbuch der Internationalen Sprache/Lernolibro de la Intemacia Lingvo”, Maribor 1995
EsperantoLand e.V.
Wiclefstr. 9 10551 Berlin Tel. 030 - 685 58 31 http://www.EsperantoLand.de/de/libroj libroj@esperantoland.de
Will Firth
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