Koechlin, Heinrich Eduard: Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 1. Oktober 2007, 12:58 Uhr
Lexikon der Anarchie: Personen
Heinrich Eduard Koechlin, geb.: 21. Januar 1918, Basel; gest.: 7. Mai 1996, Basel. Schweizer Anarchist.
Inhaltsverzeichnis
Äußere Daten
Als mittlerer von drei Kindern, eine Schwester und ein Bruder, verbringt Koechlin eine behütete Jugend im Basler ArbeiterInnenquartier „Kleinbasel“, wo sein Vater, Eduard Koechlin, eine Arztpraxis betrieb. Der Vater war Abgeordneter der Sozialdemokratischen Partei (SP) und gläubiger Christ, wie seine Mutter, die aus einer konservativen Theologenfamilie (von Orelli) stammte.
In der Primarschule als Arztsohn unter Arbeiterkindern isoliert, wird er im Gymnasium als Sohn eines Sozialdemokraten und Mitglied der sozialistischen Jugend als „roter“ Außenseiter behandelt. Nach Abschluss der Mittelschule, beginnt Koechlin an der Universität Basel Geschichte und deutsche Literatur zu studieren.
Nach dem Examen, trotz überzeugtem Anti-Militarismus, Militärdienst: „Ich konnte mich der Einsicht nicht verschließen, daß dem drohenden Totalitarismus der Nazis auch militärisch entgegengetreten werden mußte“ (zit. „Erinnerungen“, Typoskript). Kurze Tätigkeit als Gymnasiallehrer: „Mir war die da herrschende Luft so zu wider“ („Erinnerungen“). Starkes Engagement in der Flüchtlingsarbeit, die auch nach dem Krieg in der Beratung von spanischen Emigrantinnen seine Fortsetzung findet. 1947 verlässt Koechlin Basel zusammen mit seinem Freund Isak Aufseher (Isi), einem jüdischen Emigranten und ehemaligen Mitglied der Deutschen Anarcho-Syndikalisten DAS in Richtung Paris. Dort ergänzt er das Material zu seiner Dissertation über die Pariser Kommune und läßt „Der Freiheitliche Sozialist“ (1947-1949) drucken. Die Zeitung publiziert er zusammen mit Isi und seinem Bruder Felix, die in Basel die Redaktion organisierten. „Der Freihe itliche Sozialist“ war die Nachfolgezeitschrift der „Blätter für freiheitlichen Sozialismus“ (1944-1946), die Koechlin ebenfalls, mit Isi und seinem Bruder Felix noch unter der Kriegszensur in Basel herausgaben.
1950 schließt Koechlin, nach seiner Rückkehr nach Basel 1949, eine viel beachtete Dissertation: „Die Pariser Commune im Bewußtsein ihrer Anhänger“ ab und druckt sie im Eigenverlag (Don Quijote). Sie wird im gleichen Jahr in spanischer Übersetzung von argentinischen Anarchisten herausgegeben und von Albert Camus und Hanna Arendt positiv rezipiert. Er schlägt sich zuerst als Hilfsarbeiter, dann als Hilfskorrektor durch, bevor er mit Isi ein Buchantiquariat eröffnet, von dem Koechlin sich mehr schlecht als recht ernährt.
Nach verschiedenen Lebenskrisen, wobei es ihn kurz in esoterische Kreise verschlägt, heiratet Koechlin 1959 seine langjährige Freundin, die Spanierin Peteta Valcarce; aus ihrer Verbindung entspringt eine Tochter. Er gründet mit Isi zwischen 1956 und 1969 in Basel und Umgebung verschiedene selbstverwaltete Baugenossenschaften. Mehrere Kuraufenthalte wegen Tuberkulose unterbrechen seine Aktivitäten immer wieder, so im Winter 1950/51 und 1970, anlässlich letzterem ihm die Idee für die Herausgabe der „Akratie“ (1973-1980) entstand: „Die 15 Jahre, während denen ich die ‚Akratie’ herausgab, halte ich für die fruchtbarsten und produktivsten meines Lebens“ (“Erinnerungen”). Daneben schließt er eine Studie, ermöglicht durch eine Basler Stiftung, über die Spanische Revolution ab, die erst 1984 erscheint („Die Tragödie der Freiheit“). Koechlin ist publizistisch als Übersetzer und Herausgeber tätig (u. a. Sam Dolgoffs „Leuchtfeuer in der Karibik“, Alexander Berkman, Hans Schaub, John Henry Mackay). Herausgabe der eher philosophischen Schriftenreihe „Sisyphos“ (1982-1990). 1994 wird sein Theaterstück, das vom spanischen Ketzer Servet (1511-1553) handelt, „Der wahre Glaube oder das unmenschliche Entweder-Oder“, ein Gleichnis für das Recht auf Dissens, als Radiosendung uraufgeführt. In seinen letzten Jahren schließt er neben weiteren Übersetzungen noch zwei Manuskripte ab, eines über die Wirkung des Stalinismus: „Zwischen Skylla und Charybdis“ und eine Studie zu Pierre-Joseph Proudhon: „Pierre-Joseph Proudhon, ein come back?“. Nach längerer, leidvoller Krankheit stirbt Koechlin am 7. Mai 1996 in Basel.
Politischer Werdegang
Geprägt durch das Umfeld eines sozialistischen Elternhauses politisieren sich Koechlin und sein Bruder früh zu Sozialisten. Ihr Sozialismus ist atheistisch und dient ihnen zugleich als Loslösung von ihrem religiösen Umfeld. Aktiv in der Jugendorganisation der SP, tragen sie, als Sozialfaschisten beschimpft, die ersten ideologischen Konflikte mit der Kommunistische(n) Partei Schweiz (KPS) aus.
Enttäuschungen über die bürgerliche SP-Politik – 1935 bekommt die Partei die Mehrheit im Kanton Basel-Stadt und übernimmt die Regierung – neben Einflüssen durch oppositionelle Marxisten in der sozialistischen Jugend und der Lektüre von Büchern wie Peter Kropotkins „Memoiren“, Fritz Brupbachers „Marx und Bakunin“, und Gustav Landauers „Aufruf zum Sozialismus“, bringen die Brüder Koechlin zum Anarchismus. Angespornt durch die revolutionären Ereignisse in Spanien, agitieren sie mit einem gewissen Erfolg für den Anarchismus in der Jugendgruppe.
Als 1940 die KP in der Schweiz verboten wird, treten viele KPler der sozialistischen Jugend bei und instrumentalisieren die Gruppe; die Brüder Koechlin müssen unter physischem Druck die Gruppe verlassen. Koechlin schließt sich nun einer anarchistischen, italienischen Gruppe in Basel um den Bäcker Ferdinardo Balboni an. Durch sie lernt er das „geistige Haupt“ der Gruppe Luigi Bertoni kennen, mit dem er bis zu dessen Tod Kontakt hält. Daneben knüpft er Verbindungen zu Kreisen um Brupbacher, Ignatio Silone und Jean Paul Samson.
Durch Veranstaltungen und verschiedene Aktionen, in Zusammenarbeit mit oppositionellen Marxisten (u.a. gemeinsame Untergrundpresse), tritt die Gruppe gegen den zunehmenden Faschismus und die restriktive Flüchtlingspolitik in der Schweizer auf. Zusammen mit Isak Aufseher und dem Bruder Felix gründet Koechlin 1942 in Basel eine Anarchistengruppe. Sie ist eine der wenigen aktiven Deutschschweizer Anarchistengruppen während der Kriegszeit. Das von Isi und Koechlin 1942 verfaßte Selbstverständnis der Gruppe „Die kommende Revolution“ findet als hektographierte Flugschrift 1945 zusammen mit der 1945 ebenfalls gemeinsam verfaßten und kopierten Schrift „Für eine neue revolutionäre Arbeiterbewegung“ auch in Deutschland Verbreitung. Die Gruppe nennt sich nun „Arbeitsgemeinschaft Freiheitlicher Sozialisten“.
Nach dem Krieg, in der Zeit seines Paris Aufenthalts, knüpft Koechlin Kontakte zum spanischen und französischen Anarchismus und schließt sich der Exil-CNT in Paris an. Freundschaft mit Garcia Birland, dem zeitweisen Herausgeber der Exil „Solidaridad Obrera“ (Organ der CNT).
Zurück in Basel ist Koechlin zusammen mit Isi und seinem Bruder erneut im kleinen Kreis von AnarchistInnen der „Arbeitsgemeinschaft Freiheitlicher Sozialisten“ tätig. Der Kreis organisiert Veranstaltungen u.a. mit Augustin Souchy, und offizielle 1. Mai-Reden mit Juan Peirats, Gaston Leval und Federica Montseny. Koechlin pflegt einen engen Kontakt mit den “Altanarchisten” um Otto Reimers.
Mit der aufkommenden Verhärtung der ideologischen Diskurse nach 1968 vermehrter Rückzug aus der aktiven Bewegung. Trotz Sympathie für den spanischen Anarchosyndikalismus und den Ideen eines kommunistischen Anarchismus L. Bertonis, nähert er sich mehr und mehr dem mystischen Anarchismus G. Landauers und der gnostischen Philosophie des russischen Denkers Nicolai Alexandrowitsch Berdjajews an. Ist er Anfangs noch ein Befürworter einer revolutionären Umwälzung der Gesellschaft, so wandelt er sich, in Anlehnung an die „Altanarchisten“, zu einem Vertreter des evolutionären Anarchismus. Unter dem Eindruck des Existenzialismus eines Karl Jaspers und vor allem A. Camus’, mit dem er korrespondierte, lehnt Koechlin es jetzt ab, das Hier und Jetzt revolutionär zu ändern, weil eine absolute Umwälzung, die Revolution noch nicht, oder nicht mehr machbar sei und so die Untätigkeit ‑ weil alles was nicht revolutionär sei nicht zum Handeln zwinge – legitimieren würde („Reformismus“, in: „Akratie“ Nr. 8). Dabei behält Koechlin einen Klassenkampfbegriff bei: „Solange es Klassen gibt, d.h. Besitzende und Besitzlose, muß es Klassenkämpfe geben. Das Recht steht dabei auf der Seite der Besitzlosen“ („Notizen zum Klassenkampf“, „Akratie“ Nr. 7).
Er wendet sich vom, wie er meint, belasteten Begriff Anarchismus ab, um dafür das von P.-J. Proudhon und Martin Buber geprägte Wort Akratie zu setzen. Koechlin befasst sich mit der Geschichte des spanischen Syndikalismus, um im Sinne A. Camus’, der im revolutionären Syndikalismus die zukünftige Alternative sah, deren Aktualität zu belegen.
Zusammenarbeit mit den religiösen Sozialisten um die Zeitschrift „Neue Wege“; Koechlin sieht sich nun im Sinne A. Camus als Religiöser ohne Gott. Engagement gegen die Diktaturen in Chile, Kuba und den aufkommenden Antisemitismus und Neofaschismus. Nach Aufgabe der Zeitschrift „Akratie“ u.a. Mitarbeit bei „Die Freie Gesellschaft“ (Neue Folge 1981-1986) und Gründung der Schriftenreihe „Sisyphos“. Der Titel „Sisyphos“, inspiriert von A. Camus’ Versuch über das Absurde „Le mythe de Sisyphe“ („Der Mythos von Sisyphos“), bezeichnet sein bis zu seinem Tod gültiges philosophisches Kredo. Sisyphos steht für den Kampf gegen den Determinismus der Welt und zugleich als Symbol eines anarchistischen Lebenskampfes, in diesem Sinne auch Koechlin gesehen werden kann, war er doch gleich Sisyphos ein glücklicher Mensch, dem „der Kampf gegen Gipfel“ sein Herz zu füllen vermochte.
Stellenwert Koechlins innerhalb des libertären Spektrums
Koechlin aktualisierte den Anarchismus durch die Verbindung von ontologischen Fragen mit dem der Herrschaftsproblematik, was er schon in seiner Arbeit zur Kommune thematisierte: „Die Auseinandersetzung zwischen Gedanke und Wirklichkeit zwingt (...) den Revolutionär, sich mit der Wirklichkeit, seinem Ideal und mit sich selbst auseinanderzusetzen“ („Pariser Kommune“).
Er schaffte eine neue Verbindung eines nicht unkritisch rezipierten anarchistischen Denkens P.-J. Proudhons, G. Landauers mit der existentialistischen Philosophie eines K. Jaspers und A. Camus. Dabei versuchte er eine philosophische Balance zwischen anarchistischen Massenbewegungen wie dem Anarchosyndikalismus und dem Solipsismus des Einzelnen zu finden. Koechlin misstraute dem rein Rationalen, Wissenschaftlichen und räumte dem Absurden als lebensnotwendiges Korrektiv der Vernunft eine Platz im libertären Denken ein.
Daneben war Koechlin ein Praktiker und anarchistischer Rufer in der Schweizer Linken, durch den sich immer wieder neue Generationen von AnarchistInnen herausgebildet und inspiriert haben. Koechlins Wirken ermöglichte es dem Deutschschweizer Anarchismus eine ununterbrochene Tradition zu pflegen.
Werner Portmann
Literatur und Quellen: Werke
- H. E. Koechlin: Die Pariser Commune im Bewußtsein ihrer Anhänger, Mulhouse 1950
- H. E. Koechlin: Die Tragödie der Freiheit. Spanien 1936-1937, Berlin 1984
- Eine Sammlung seiner Texte erschien unter dem Titel: Philosophie eines freien Geistes, Berlin 1990
Zeitschriften, Broschüren u. Auswahl v. Beiträgen von Heiner Koechlin:
- Die kommende Revolution, o.J. (1942)
- Für eine neue revolutionäre Arbeiterbewegung, o.J. (1945)
- Blätter für freiheitlichen Sozialismus, Basel 1944-1946
- Der Freiheitliche Sozialist, Paris 1947-1949
- Can We Afford to Be Anti-Militarists in Our Day?, in: „The World Scene From The Libertarian Pont Of View”, Chicago 1951
- Anarchismus, Gefahr, Illusion, Hoffnung?, in: „Neue Wege“, Basel 1969 (Auch als Separatdruck erschienen. Leicht verändert in der Sonntagsbeilage vom Juni der Nationalzeitung, Basel 1969 u. überarbeitet in: „Anarchismus und Marxismus“ Bd. 3, Berlin l976)
- Akratie, Basel 1973-1980
- Sisyphos, Aktuelle Schriftenreihe, Basel 1982-1990:
- Der wahre Glaube oder das unmenschliche Entweder-Oder (Text über den spanischen Ketzer Servet), Nr. 1, 1982 - Freiheit und Geschichte in der Kontroverse zwischen Albert Camus und Jean Paul Sartre (Essays über A. Camus / J. P. Sartre), Nr. 3, 1985
- Anarchismus und Christentum, in: „Arnoldshainer Protokolle“, Schmitten 1987
- Anarchismus und jüdisch-christliche Endzeiterwartung, in: „Christentum und Anarchismus“, Frankfurt/M. 1988
- Ist die Idee des Sozialismus noch zu retten?, in: „Individualität“, Zürich 1990
- Anarchismus – der Gegensatz zu Herrschaft. Eine Korrektur, in: „Schweizer Monatshefte“, Zürich 1995
Typoskripte:
- H. E. Koechlin: Zwischen Skylla und Charybdis, die heimatlose Linke der 1930 Jahre
- H. E. Koechlin: Pierre-Joseph Proudhon, ein come back?
- H. E. Koechlin, Am Rande des Geschehens, Erinnerungen.
Rundfunkbeiträge:
- Revolution in Spanien, Dokumentation, Radio LoRa, Zürich 1986
- Hörspiel über Servet nach dem Text „Der wahre Glaube ...“, Radio DRS 1994
Übersetzungen:
- S. Dolgoff: Leuchtfeuer in der Karibik, Berlin 1983
Von Heiner Koechlin herausgegebene Broschüren:
- A. Berkman: Die Kronstadt Rebellion, Basel o.J.
- H. Schaub: John Henry Mackay, Basel o.J.
- J. Talmot: Das Vaterland ist in Gefahr, Sisyphos Nr. 2, Basel 1982
- J. Vatis: Die wilden Hunde, Sisyphos, Basel 1990
Quellen
- Nachlass Koechlin, Basel
- C. Gilly: Für die Idee der Freiheit. Heiner Koechlin zum Gedenken, in: Basler Stadtbuch, Basel 1996
- Werner Portmann: Vom Drachen jagen: Zum Tod von Heiner Köchlin, in: Schwarzer Faden Nr.61 (1997)
- Werner Portmann, Siegbert Wolf: Ja, ich kämpfte. Von „Luftmenschen“, Kindern des Schtetls und der Revolution, Münster 2006
- Hans Jürgen Degen: Anarchismus in Deutschland 1945-1960, Ulm 2002
Quelle: Dieser Artikel erschien erstmals in: Lexikon der Anarchie: Encyclopaedia of Anarchy. Lexique de l'anarchie. - Hrsg. von Hans Jürgen Degen. - Bösdorf: Verlag Schwarzer Nachtschatten, 1993-1996 (5 Lieferungen). - Loseblattsammlung in 2 Ringbuchordnern (alph. sortiert, jeder Beitrag mit separater Paginierung). Für die vorliegende Ausgabe wurde er überarbeitet.
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