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Murray N. Rothbard

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Lexikon der Anarchie: Personen


Murray N. Rothbard (1926-1995)

Murray N. Rothbard; geb. am 2. März 1926 in New York, gest. am 7. January 1995 in New York.

Äußere Daten

Rothbard wuchs in einer Familie armer, ostjüdischer Immigranten auf. Sein Studium finanzierte er durch Arbeit und mit Stipendien aus privater Begabtenförderung. Während seine reichen Kommilitonen meist Sozialisten oder Kommunisten waren, wurde er Republikaner. Jedoch zog es ihn von Beginn an zu der antimilitaristischen und Staats-skeptischen Ausprägung des auf Jefferson zurückgehenden Republikanismus der Dichterin Ayn Rand und des Essayisten Albert Jay Nock. Als russische Exilantin lehnte A. Rand jede Öffnung nach „links" zeitlebens strickt ab. In den 50er und 60er Jahren bemerkten allerdings einige der politisch aktivsten Mitglieder ihres Kreises, unter ihnen Rothbard, mehr oder weniger erstaunt, dass es über die Feindschaft gegen Rassismus und Imperialismus Gemeinsamkeiten mit bestimmten linken Kräften gab. A. J. Nock dagegen hatte weniger Berührungsprobleme, stützte er seine Staatskritik doch stark auf den deutschen Soziologen Franz Oppenheimer, der sich als „liberaler Sozialist" bezeichnete.

Akademisch schloss sich Rothbard als Schüler dem österreichisch-jüdischen Ökonomen Ludwig von Mises an, der führend unter den Anti-Keynesianern und Anti-(Staats-)Sozialisten war und in den 30er Jahren vor den Nazis nach Amerika floh. Begründete schon die Position völliger Ablehnung staatlicher Eingriffe in die Wirtschaft durch L. v. Mises eine extreme Außenseiterstellung, machte Rothbards Weiterentwicklung in Richtung auf konsequenten Anarchismus ihn zunächst völlig unmöglich in der Welt der Intellektuellen. Erst in der Zeit des Vietnam-Krieges akzeptierten ihn linke Akademiker aufgrund seiner kompromisslosen Kritik an der interventionistischen US-Außenpolitik, und so fand er eine Anstellung am Brooklyn Polytechnic Institut.

Es ergab sich eine Zusammenarbeit mit herausragenden Denkern und Aktivisten der linken Szene wie Paul Goodman (Anarchist), Walter Block (SDS) und Ronald Radosh (Sozialist). In der Folge dieser Zusammenarbeit lösten sich ab Mitte der 60er Jahre anti-autoritäre und anti-militaristische Teile sowohl aus den rechten als auch aus den linken Organisationen, um „jenseits von rechts und links" das Libertarian Movement mit seinen zahlreichen Fraktionen, Organisationen, Parteien, Zeitungen, Instituten zu bilden. Das erste größere Werk, mit dem Rothbard an die Öffentlichkeit trat, ist das zweibändige „Man, Economy, and State" (1962), eine Grundlegung theoretischer Ökonomie. Zusammen mit „Power and Market" (1970) - eine ökonomische Analyse politischer Herrschaft - und „The Mystery of Banking" (1983) - eine politische Analyse ökonomischer Bank- und Währungsmanipulationen - als gleichsam dritten und vierten Band ist es die erste und einzige vollständige und konsequente Entfaltung der „österreichischen Schule der Ökonomie" (austrian economics), die Carl Menger begründete und L. v. Mises entscheidend weiterentwickelte. In „Man, Economy, and State" erklärt Rothbard die Entstehung von Preisen, Kapital und Geld durch freiwillige Handlungen, deren Struktur er „Markt" nennt. Alle staatlichen Eingriffe in das Marktgeschehen - Interventionen - weist er als ineffizient und unmoralisch zurück. Eine historische Illustration seiner Thesen gibt Rothbard mit der minutiösen Analyse der amerikanischen Depression der 30er Jahre, „America's Great Depression" (1963) und mit seiner Doktorarbeit über den Bankenkrach von 1819, „The Panik of 1819" (1962).

Die politischen Konsequenzen aus seiner ökonomischen Position legt Rothbard in „For A New Liberty: the libertarian manifesto" (1973/78) dar. Die Forderung nach freiem Markt wird auch auf Gebiete ausgeweitet, die selten in den Blick selbst exponierter Vertreter marktwirtschaftlicher Theorien kommen: Erziehung, Verkehrswesen, Polizei, Gerichte, Ökologie und Verteidigung. Diese Forderungen begründet er nicht nur utilitaristisch-ökonomisch mit Effizienz, sondern gibt ihnen auch eine moralphilosophische Grundlage, die den unbedingten Vorrang der freien individuellen Entscheidung herausstellt. Diese in der Tradition des Natur- und Vernunftrechts wurzelnde moralphilosophische Grundlage diskutiert Rothbard ausführlich in „The Ethics of Liberty" (1982). Die politische Tradition seiner Position spürt Rothbard in „Conceived in Liberty" (1975 ff.) nach. Es handelt sich um eine mehrbändige, noch nicht abgeschlossene Geschichte der amerikanischen Kolonialzeit und der Revolution.

Zur Erkenntnistheorie liegen von Rothbard die Abhandlungen „Praxeology: The Methodology of Austrian Economics" (1976) und „Individualism and the Philosophy of the Social Science" (1979) vor. Anders als sein Lehrer L. v. Mises, der Kantianer war, folgt Rothbard sowohl erkenntnistheoretisch als auch moralphilosophisch mehr Thomas von Aquin. Politisch hat sich Rothbard für den Weg der „Libertarian Party" entschieden. Diese Partei wirft für den amerikanischen „libertarianism" ähnliche Probleme auf, wie die „Grünen" für die deutsche Protestbewegung: Kräfte werden in legalistisch-parlamentarischen Nebenschauplätzen verschlissen und langfristig ins System integriert. Obgleich Rothbard die „Libertarian Party" 1971 mitbegründet hatte und nach wie vor als intellektuelles Haupt der Bewegung akzeptiert wird, nimmt er mittlerweile mit seiner radikalen Position innerhalb der Partei eine Außenseiterstellung.

Positionen

Alle Schriften Rothbards durchzieht mit gewisser Monotonie ein Gedanke: jeden realen oder gedachten gesellschaftlichen Zustand genealogisch bis zu dem Punkt zurückzuverfolgen, an dem deutlich wird, ob er aufgrund freiwilliger individueller Entscheidungen oder durch Zwangseinwirkung zustande kam und aufrecht erhalten wird. Unter Zwang (coercion) versteht Rothbard dabei immer und ausschließlich Gewalt bzw. Androhung von Gewalt. „Strukturelle Gewalt" entsteht, wenn Institutionen als Bedingung ihrer Möglichkeit organisierte Gewaltandrohung benötigen, ohne im eigenen Namen die Drohung auszusprechen. Die Finanzbehörde etwa kann Steuern nur aufgrund der Drohung einziehen, im Falle der Zahlungsverweigerung polizeiliche Gewalt zu aktivieren. Denn Steuern sind keine freiwilligen Beiträge. Oder: Die Schulpflicht ist angewiesen auf die Möglichkeit der Erzwingung von Schulbesuch, denn sonst wäre der Schulbesuch freiwillig. Die Gewalt gibt der so organisierten Gesellschaft ihre Struktur, auch wenn aktuell Gewalt nicht in großem Umfang eingesetzt wird. Aus Freiwilligkeit ergäbe sich eine andere Sozialstruktur.

Der aus Freiwilligkeit resultierende Zustand (Markt) findet unabhängig von Rothbards persönlicher Wertschätzung, die nur selten überhaupt sichtbar wird, Zustimmung, während der gewaltsam erzwungene Zustand (Staat) auf jeden Fall abgelehnt wird. Beispiel: Rothbard liebt die klassische Musik und findet Popmusik grauenhaft. Er lehnt aber nicht nur jede Zensur der Popmusik, wie sie in den USA von religiösen Fanatikern häufig und sehr militant gefordert wird, strikt ab, sondern selbstverständlich auch die Subventionierung der von ihm bevorzugten Musikrichtung.

Rothbard analysiert in dieser Weise alle Aspekte der sozialen Wirklichkeit, indem er sie auf zwei Kategorien zurückführt, nämlich „freiwillige Handlung" (voluntary action) einerseits und auf Zwang/Gewalt (coercion) andererseits. Die aus freiwilligen Handlungen resultierende gesellschaftliche Struktur heißt bei Rothbard „freiwilliger Austausch" (voluntary exchange) oder „Markt", in die Zwang/Gewalt „interveniert". Die Möglichkeiten, Bedürfnisbefriedigung zu organisieren, bezeichnet er nach F. Oppenheimer im Rahmen des Marktes als „ökonomische Mittel", im Rahmen von Interventionen als „politische Mittel". Die ökonomischen Mittel zielen in Rothbards auf A. J. Nock zurückgehender Terminologie auf „social power", das sind „die produktiven Folgen der freiwilligen Interaktion zwischen Menschen"; während die politischen Mittel auf „Herrschaft" (political power) zielen, das ist die Aneignung fremder Arbeitsleistungen (Ausbeutung) und Kontrolle über fremdes Leben (Bevormundung).

Die freiwillige Handlung darf in jedem Falle die eigene Person und deren legitim — d. h. aufgrund freiwilligen Austausches oder aufgrund von Aneignung durch Bearbeitung - erworbenes Eigentum einbeziehen, aber nur im Zustimmungsfalle sich auf fremde Personen und fremdes Eigentum erstrecken. Daß jede Person mit sich (und ihrem Eigentum) machen darf, was sie will, nennt Rothbard das Prinzip des „Selbsteigentums" (self-ownership); ein Begriff, der in etwa dem deutschen, allerdings ziemlich undeutlichen Ausdruck „Selbstbestimmung" entspricht.

Bedeutung Rothbards innerhalb des libertären Spektrums

Mit Rothbard hat der zeitgenössische Anarchismus wieder Anschluss an die lange vernachlässigte ökonomische Theorie gefunden. Denn dass Rothbard einer der führenden ökonomischen Theoretiker der Welt ist, wird selbst von seinen politischen Gegnern nicht bestritten. Rothbards Terminologie lässt unschwer seine Einordnung in den „individualistischen" Traditionsstrang des Anarchismus zu. Jedoch widersetzt sich seine Theorie auch nicht einer Einbeziehung in den „Anarchismus ohne Adjektive", da kommunistische, sozialistische, kollektivistische und mutualistische Anarchisten auch stets auf die strikte Freiwilligkeit der von ihnen angestrebten Lebensformen bestanden. Letztlich ist es für die Richtigkeit von Rothbards ökonomischer Theorie völlig unerheblich, ob sich „Freiwilligkeit" auf den Artefakt eines isolierten Individuums bezieht oder auf die Handlung einer freiwillig konstituierten Gruppe.


Quellen - Die wichtigsten Werke

  • Man, Economy, and State (1962), Los Angeles 1970.
  • America's Great Depression (1963)), Kansas City 1975.
  • The Transformation of the American Right, und The Anatomy of the State, in: Perlin (Hg.): Contemporary Anarchism, New Brunswick 1966.
  • Power and Market (1970), Kansas City 1977.
  • Radosh/Rothbard: A New History of Leviathan: Essays on the Rise of the American Corporate State, New York 1972.
  • Conceived in Liberty, Bd. l,New Rochelle 1975, Bd. 2, ebd. 1975, Bd. 3, ebd. 1976, Bd. 4, ebd. 1979.
  • ForANew Liberty, New York 1978.
  • Vom Recht gegen Erziehung (1978), in: Klemm u. a. (Hg.): Werkstattbericht Pädagogik, Bd. 1, Grafenau 1985.
  • The Ethics of Liberty, Atlantic Highlands 1982.
  • The Mystery of Banking, o. O. 1983.


Literatur

  • S. Blankertz: Legitimität und Praxis, Wetzlar 1989.
  • D. Gordon: Murray N. Rothbard: A Scholar In Defence of Freedom, Washington 1986.
  • H. H. Hoppe: Eigentum, Anarchie und Staat, Opladen 1987.


Autor: Stefan Blankertz


Quelle: Dieser Artikel erschien erstmals in: Lexikon der Anarchie: Encyclopaedia of Anarchy. Lexique de l'anarchie. - Hrsg. von Hans Jürgen Degen. - Bösdorf: Verlag Schwarzer Nachtschatten, 1993-1996 (5 Lieferungen). - Loseblattsammlung in 2 Ringbuchordnern (alph. sortiert, jeder Beitrag mit separater Paginierung). Für die vorliegende Ausgabe wurde er überarbeitet.

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