Priber, Christian Gottlieb
Lexikon der Anarchie: Personen
Christian Gottlieb Priber, geb. 22. März 1697 in Zittau, gest. ca. 1744/45 in Gefangenschaft in Fort Frederica (Georgia); aufklärerischer anarchistischer Theoretiker und Praktiker; plante, als einflussreicher Akteur bei den Cherokee, ab ca. 1735 die Errichtung eines herrschaftsfreien Gemeinwesens auf Basis von Kollektiveigentum mit Indigenen, ehemaligen Sklaven und europäischen Einwanderern (Schuldnern, ehemaligen Kriminellen, religiösen Freigeistern usw.).
Inhaltsverzeichnis
Biographie
Priber, Sohn eines Zittauer Kaufmanns und Tuchhändlers, besuchte das Gymnasium seiner Heimatstadt, studierte ab 1718 Philosophie und Rechtswissenschaften in Leipzig – einem der wichtigsten Aufklärungszentren der deutschen Staaten – und wurde 1722 zum Doktor der Rechtswissenschaften in Erfurt promoviert. Im selben Jahr heiratete er in Zittau eine Tochter des dortigen Gymnasialdirektors und ließ sich als Advokat in der Stadt nieder. Sieben Kinder kamen zur Welt, von denen aber nur vier überlebten. Wahrscheinlich betrieb er als Rechtsanwalt auch die Handelsgeschäfte seines inzwischen verstorbenen Vaters weiter, scheint aber in finanzielle Schwierigkeiten geraten zu sein. 1734 reiste oder flüchtete Priber nach London, und im Juni 1735 stellte er einen Antrag bei den „Trustees“ der neu gegründeten Kolonie Georgia auf Übersiedlung in diese Region und damit auf Landzuteilung. Im Dezember befand er sich allerdings im heutigen Charlestown (South Carolina), und im Februar 1736 bewarb er sich in dieser britischen Kolonie um eine Landzuteilung. Im März erhielt er das Land zugeteilt, machte sich aber in den Wochen oder Monaten danach auf den 800 km langen Weg nach Norden auf, nach Great Tallico (heute East Tennessee), dem Hauptsiedlungssitz der Oberen Cherokee (Overhill Cherokee). Hier fügte er sich schnell in die Stammesstrukturen und Gebräuche ein, verschenkte sein Hab und Gut, lernte die Sprache (ggf. mehrere) und wurde wahrscheinlich nominell in die matrilineare Züge tragende Gesellschaft adoptiert, so dass er ein vollwertiges Clan- und Stammesmitglied wurde. Priber gewann in der ohnehin nur fluiden Siedlungs- und Stammeshierarchie an Einfluss. Wie weit dieser Einfluss wirklich reichte, ist umstritten. Weil er kritisch in die betreffenden Handelsgeschäfte eingriff, galt er der britischen Kolonialmacht bald als Störenfried; Priber hatte u.a. auch Kontakte mit französischen und spanischen Kolonialbehörden aufgenommen, die Ansprüche auf britisch besetzte Indigenenterritorien hegten. Deshalb – und aufgrund seiner generellen aufrührerischen Vorhaben – wurde er 1743 gefangen genommen und, als vermeintlicher Agent der Spanier oder Franzosen, nach Fort Frederica überstellt, dem damaligen britischen militärischen Hauptquartier Georgias. Wahrscheinlich verstarb er dort Mitte der vierziger Jahre als Gefangener.
Stellung innerhalb des aufklärerischen Anarchismus
Priber ist den radikalen Linien der Aufklärung zuzurechnen. Den mittlerweile sieben überlieferten relevanten zeitgenössischen Quellen zufolge bestanden seine naturrechtlich basierten Vorstellungen darin, dass sie sich nicht nur gegen religiöse, staatliche und ökonomische Herrschaft richteten, sondern gegen Herrschaft an sich, und zwar auf fünf Gebieten: Politik, Ökonomie, Religion, Geschlecht, Ethnie. Er erstrebte:
- eine Republik ohne jegliche Herrschaft, vollkommene Realisierung von Recht und Freiheit (Republik im Sinn von Gemeinwesen, nicht als institutionell-politische Organisationsform),
- Gemeinschaftseigentum,
- ein Nebeneinander und Absterben aller Religionen unter dem Dach einer neuen naturrechtlich-moralischen, nichtreligiösen Weltanschauung,
- gleiche Freiheiten für Frauen und Männer sowie ein Leben ohne Heiratskontrakte,
- ein Miteinander verschiedener Ethnien: Indigene, ehemalige schwarze Sklaven, europäische Zuwanderer.
Diese Ansichten weisen den Quellen zufolge, bei aller Radikalität, aber auch Merkmale auf, die sich nicht nur als anarchistisch, sondern auch als ‚anarchoid‘ kennzeichnen lassen. Denn Priber scheint sich auf dem Weg in eine staatslose Gesellschaft zumindest für eine bestimmte Übergangszeit eine leitende politische Rolle zugeschrieben zu haben.
Theoretische Einflüsse
Aufklärerisch geprägt war Priber, allein durch sein Studienumfeld, von Naturrechtssauffassungen. Gleichfalls ist bekannt, dass Priber, der plante, ein Königreich, einen Staat oder eine Stadt namens „Paradies“ zu gründen, sich allen Religionen gegenüber abfällig geäußert hat; insgesamt knüpfte er an aufklärerische Auffassungen einer ‚natürlichen‘ – statt ‚ausgeformten‘ – Religion an. Gleichfalls wird sich Priber auf aufklärerische anarchoide literarische Entwürfe bezogen haben (Rabelais, Fénelon, Schnabel u.a.). Ebenfalls prägten ihn Konstrukte des „guten Wilden“ oder „edlen Wilden“, die dazu dienten, die europäische Gesellschaft und ihre Deformationen anzuprangern, aber auch dazu, alternative Sozial- und Gesellschaftsmodelle gedanklich zu durchspielen (Montaigne, Foigny, Lahontan u.a.).
Forschungsgeschichte
Vieles von Pribers Leben, seinem Wirken und seinen Plänen ist nach wie vor unbekannt. Obwohl im Rahmen der Gründungsgeschichte des Staates Georgia die US-amerikanische Historiographie immer wieder auf ihn eingeht, haben sich zu ihm nur wenige aussagekräftige Quellen erschließen lassen. In seiner Pionierstudie aus dem Jahr 1919 verortete der Historiker Verner W. Crane Pribers Bemühungen um die Autonomie der Cherokee (und anderer Indianerstämme) im Konkurrenzkampf der Kolonialmächte Großbritannien, Spanien und Frankreich. Der Historiker Knox Mellon, Jr. setzte sich 1960 quellenkritisch mit der nach Pribers Tod lancierten Mythe auseinander, er sei – als Jesuit – ein Interessenvertreter oder Agent in spanischen Diensten gewesen, und es gelang ihm, die Herkunft des bis dahin biographisch Unbekannten aufzuklären – eben als aus Zittau stammenden, nach seinem Studium in Leipzig in Erfurt promovierten und anschließend in Zittau arbeitenden Advokaten (1973 erschloss er weitere Dokumente zu Pribers Gefangenschaft). Der Literaturwissenschaftlerin Ursula Naumann ist die bisher einzige – und auch von der Quellenarbeit her – wegweisende Monographie (2001) zu verdanken. Der Ethnologe Marin Trenk konnte 2001 Pribers Integration in indigene Stammesverhältnisse durch vergleichende Blicke auf andere europäische Exilanten bestätigen. Das Verdienst eines Aufsatzes aus dem Umfeld der Gottsched-Forschung von Martin Schlott besteht vor allem darin, die naturrechtliche Basis von Pribers Denken anhand seiner Dissertationsschrift aus dem Jahr 1722 herausgearbeitet und neben einem neu erschlossenen deutschsprachigen Brief über Priber die fünf bis dahin bekannten englisch- und französischsprachigen Dokumente von Zeitzeugen zu seinen sozial-reformerischen Vorstellungen (die sich zum Teil widersprechen) in Originalsprache veröffentlicht zu haben (2012). Unabhängig voneinander ermittelten danach zwei Arbeiten zusätzlich das Inhaltsverzeichnis von Pribers als verloren geltender utopischer Programmschrift (Sullivan 2017; Briese 2017).
Kurzes Fazit
Soweit die teilweise widersprüchlichen Quellen es zulassen, kann man bei Priber einen libertären Anarchismus erkennen, aber auch einen bestimmten Archismus. Diese Widersprüche ergeben sich auch aus dem Status dieser Dokumente und daraus, ob sie Pribers Aktivitäten wohlwollend oder kritisch-abwertend gegenüberstehen. So können weitere und präzisere Befunde wohl letztlich nur aus weiteren Quellenfunden gewonnen werden.
Quellen und Literatur
- Verner W. Crane: A Lost Utopia of the First American Frontier. In: Sewanee Review Quarterly, 27.1 (1919), S. 48-61,
- [William] Knox Mellon, Jr.: Christian Priber and the Jesuit Myth. In: The South Carolina Historical Magazine, 61.2 (1960), S. 75-81,
- [William] Knox Mellon, Jr.: Christian Priber’s Cherokee „Kingdom of Paradise“. In: The Georgia Historical Quarterly, 57.3 (1973), S. 319-331,
- Ursula Naumann: Pribers Paradies. Ein deutscher Utopist in der amerikanischen Wildnis. Frankfurt/M.: Eichborn 2001,
- Marin Trenk: Königreich Paradies. Christian Gottlieb Priber, ein Utopist aus Sachsen bei den Cherokee. In: Historische Anthropologie, 9.2 (2001), S. 195-213,
- Michael Schlott: Utopia Lusatica. Christian Gottlieb Priber (1697-1745): friend to he natural rights of mankind. In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte, 106.1 (2012), S. 61-96,
- John Jeremiah Sullivan: Ein Durchbruch in der Priber-Forschung: Die Entdeckung der Variante der Kapitelüberschriften. In: Priber Sommer Zittau 2016. Hg. Peter Knüvener. Görlitz: Gunter Oettel 2017 (Zittauer Geschichtsblätter 53), S. 42-46,
- Olaf Briese: Christian Gottlieb Pribers Plan einer grundsätzlich herrschaftsfreien Gesellschaft. Quellen aus den Jahren 1734-1775. Mit einem neuen Fund. In: Ne znam. Zeitschrift für Anarchismusforschung, 3 (2017), H. 5, S. 111-160 [relevante Quellen in deutscher Übersetzung].
Autor: Olaf Briese
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