Neumann, Stanislav Kostka
Neumann, Stanislav Kostka
Stanislav Kostka Neumann (N.): Geb. am 5. Juni 1875 in Prag;gest. am 28. Juni 1947 in Prag.
Die gedanklichen und literarischen Brüche N.s repräsentieren in einzigartiger Weise das Schicksal einer Generation tschechischer Kultur und sozialpolitischen Denkens zum Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie sind verkörpert durch die Spannung zwischen Individualismus und Anarchismus am Ende des Jahrhunderts und der kommunistischen Ideologie in der Zeit zwischen den Weltkriegen. N. begann bei der „alttschechischen“ (einer konservativen politischen Partei) Hlas národa (Stimme des Volkes), als Journalist zu arbeiten. Anfang der 90er Jahre näherte er sich der fortschrittlichen Bewegung der Jugend und wurde ihr aktiver Repräsentant. Aber erst in der Zeitung Pokrokové listy (Fortschrittliche Blätter) (1893) begann er seine eigentliche journalistische Laufbahn. Er besuchte den Politický klub dělnictva v Čechách (Politischer Klub der Arbeiterschaft in Böhmen), an dem ihn die Idee des „tschechischen fortschrittlichen Sozialismus“ faszinierte. 1893 wurde er im Prozeß mit sog. „Omladina“ (Jungvolk) zu vierzehn Monaten Gefängnis verurteilt. In der zweiten Hälfte der 90er Jahre begann N. mit der Moderní revue (Moderne Revue) zusammenzuarbeiten, die ihn wegen ihrer symbolistisch-dekadenten Ziele, ihres Individualismus’, Aristokratismus’ sowie Radikalismus’ und ihrer Haltung gegenüber der „offiziellen Gesellschaft“ anzog. So formte sich sein anarchistischer Standpunkt, der sich schließlich in den sieben Jahrgängen des von ihm herausgegebenen Nový kult (Neuer Kult) (1897–1905) profilierte und entwickelte. Er wurde zu einer markanten Persönlichkeit der anarchistischen Bewegung. Neben der Nový kult gab er auch eigene Publikationen in der Knihovna Nového kultu (Bücherei des Neuen Kultes), der Knihovna revolucionárů (Bücherei der Revolutionäre) und Kalenderblätter mit eigenen und auch übersetzten Arbeiten heraus. Aus Prag abgegangen editierte er dann in Wien und später in Mähren die Anarchistická revue (Anarchistische Revue, 1905). Später arbeitete er zusammen mit der Zeitung Moravský kraj (Mährisches Land, 1906–1907) sowie auch mit Prager und nordböhmischen anarchistischen Blättern: Omladina (Das Jungvolk, 1905–1907), Práce (Die Arbeit, 1905–1907), Komuna (Die Kommune, 1907–1908) und Zádruha (Die Großfamilie, 1909–1914). 1915 wurde er zum Militär eingezogen und machte den Krieg auf dem Balkan bis zum Jahre 1917 mit; zuletzt verbrachte er die letzte Zeit des Krieges in stationärer medizinischer Behandlung in Prag. Von 1918 an redigierte N. die Zeitschrift Červen (Juni, 1918–1921), welche seine gedanklichen Veränderungen nach dem Krieg getreu widerspiegelt. Eingebunden in die Federace českých anarchistů komunistů (Föderation tschechischer Anarchisten-Kommunisten) trat er – zusammen mit anderen Anarchisten als der Föderation – in die Československá strana socialistická (Tschechoslowakische Sozialistische Partei, 1918), aufgrund ihres damals radikalen sozialistischen Programms von 1918, ein. Die Eingliederung in die Partei geschah in der Hoffnung, dass die Föderation wird auf der Platform der Partei die anarchistischen Prinzipien durchsetzen können. In der neuen selbständigen Tschechoslowakischen Republik (ČSR) wurde N. Mitglied des Revoluční národní shromáždění (Revolutionäre Nationalversammlung). 1918 nahm er einen Posten beim Schulministerium der ČSR an, und als Abgeordneter arbeitete er im Kulturausschuß des Parlaments. Als die Erwartungen auf Erfüllung des Programms der sozialistischen Partei und auf Möglichkeit die anarchistische Grundprinzipien durchzusetzen können nicht erfüllt wurden, trat er, aus der Partei aus und bat um Entlassung aus seiner Funktion beim Ministerium (1920). Das allmähliche Revidieren der Grundlagen des Anarchismus und seine Bekanntschaft mit den Schriften Lenins brachten N. dazu – zuerst nach der eigene Warnung vor der Grausamkeit und Brutalität der bolschewistiche Revolution – langsam den leninistischen Kommunismus zu akzeptieren. Er begann, im Norden Böhmens kommunistische Gruppen zu gründen und wurde Vizepräsident des Zentralrats des Svaz komunistických skupin (Verband kommunistischer Gruppen), mit deren er sich an der Gründung der Kommunistische Partei (1921) beteiligte. Im Zeitschrift Červen (Juni, vom Jahre 1919 an) publizierte N. Texte von Lenin; danach in Edice Června (Edition Juni) die Übersetzung von Lenins Staat und Revolution (1920). Mit der publizistischen Arbeit und dem literarischen Schaffen fuhr er dann in der Komunistická revue (Kommunistische Revue, 1924) fort. Er leitete die Zeitschrift Reflektor (1925). Nebenher publizierte er in der Tageszeitung der Kommunistischen Partei Rudé právo (Rotes Recht, vom Jahre 1920 an), gleichzeitig in Trn (Der Dorn, 1924), Var (Das Sieden, 1924–1925) und weiteren Zeitschriften. Er orientierte sich an der proletarischen Kultur und durchdachte ihre theoretischen Grundlagen. In der zweiten Hälfte der 20er Jahre veröffentlichte er populärwissenschaftliche, kulturhistorische, soziologische, und ethnologische Arbeiten. 1929 wurde er, wegen der Nichtzustimmung zu ihrer bolschewistischen Orientierung, aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen. N. publizierte dann in den Zeitschriften und Zeitungen Tvorba (Das Schaffen), im Rudé právo (Rotes Recht), in Lidové Noviny (Volkszeitung), Lidová kultura (Volkskultur), Učitelské noviny (Lehrerzeitung) usw. und redigierte die Zeitschrift Levá fronta (Die linke Front, 1930–1931). Er orientierte sich an Fragen des sozialistischen Schaffens und des sozialistischen Realismus. Im Jahre 1938 wurde seine Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei erneuert. Ihre Kulturpolitik setze er aktiv nach 1945 durch, als er in Tvorba, im Rudé právo und in der Kulturní politika (Kulturpolitik) publizierte. Am Anfang der Entwicklung von seinem Denken stand die Aktivität in der sog. Fortschrittlichen Bewegung in den 90er Jahren des l9. Jahrh.s mit ihrer Ablehnung der sog. „jungtschechischen“ Politik und wachsender Distanz zur Sozialdemokratie. Anregung und Ausdruck für seinen Radikalismus fand N. in der aristokratischen symbolisch-dekadenten Orientierung der Moderní revue (gegründet 1894), zu der er selbst beitrug. Einen ausgeprägten Einfluß hatte die Philosophie Friedrich Nietzsches auf ihn, der für die Generation der 90er Jahre ein Symbol des Aufruhrs, der Revolte, der Gewalt war und mit seinem Individualismus und Antiklerikalismus auf ihn anziehend wirkte. Widerhall fand auch Stanislaw Przybyszewski mit seinem Kult des Satanismus und Erotismus, was sich besonders in seinem dichterischen Schaffen ausdrückte. Politisch formend waren für N. schließlich die Ansichten anarchistischer Theoretiker mit ihrem Radikalismus und anfangs besonders mit ihrem Individualismus (Max Stirner, Adolphe Rette, Zo d’Axa) und später dann Vertreter des kommunistischen Anarchismus (Pjotr Kropotkin, Jean Grave). Die Moderní revue stellte für N. die „extreme geistige und literarische Linke“ dar und war für ihn „Teil der fortschrittlichen Bewegung der 90er Jahre“, (Erinnerungen, S. 138). Die philosophische und sozialpolitische Orientierung am Ende der 90er Jahre und zur Jahrhundertwende war der individualistische Anarchismus (in den Jahren der Bewegung zeitweilig unabhängiger Sozialismus genannt), der jeden Staat, auch den sozialistischen, den Parlamentarismus, den Kampf politischer Parteien ablehnte, aktiv gegen Nationalismus und damalige Volkstümelei, gegen Klerikalismus und Religion auftrat. Die Idee der Anarchie bedeutete „eine Zusammenfassung politisch–sozialer und ethischer Ansichten, gründend auf der Forderung nach uneingeschränkter Freiheit des Individuums“ (1897). „Wir sind gegen jeden Staat, gegen jeden Staat überhaupt“, proklamierte N. (1899). „Das Individuum bemerkt langsam, daß es am freiesten nur zwischen gleich Freien sein wird, daß die Garantie seiner Freiheit, die gleiche Freiheit aller in der Gesellschaft ist. Das ist die Grundlage eines neuen individualistischen Systems, welches wir Anarchismus nennen“ (1899). N.s aktives Engagement in der anarchistischen Bewegung korrigierte die, insbesondere durch die künstlerische Freiheit motivierte, aristokratische und individualistische Ausschließlich-keit des Gedankens durch einen ethischen und ästhetischen Stand-punkt. Sein theoretisch–praktischer Standpunkt entwickelte sich in Richtung zu sozialen Fragen, zum Kollektivismus bzw. zum kommunistischen Anarchismus, repräsentiert insbesondere durch P. Kropotkin und Elisee Recluse. Mit dem Abstand geistiger und praktisch–politischer Erfahrungen faßte N. seinen Standpunkt in einer Serie von Abhandlungen in Zeitschriften zusammen, die er dann in der Sammlung „Sozialismus und Freiheit“ herausgab (1909). In synthetisierender Form formulierte er den grundlegenden Standpunkt seines kommunistischen Anarchismus, dessen zentraler Begriff die Freiheit ist. N. kam mit dem Gedanken des „Tschechischen Sozialismus“ als Konkretisierung des Anarchismus im tschechischen Umfeld mit seiner nationalen Frage und charakterisierte ihn als kulturell, fortschrittlich, rational und undogmatisch. Gleichzeitig, und neben seinem dichterischen Werke, widmete er sich auch theoretischen Fragen kulturellen Schaffens, Orten der Kunst und des Künstlers in der Gesellschaft, was er in der Sammlung „Vor den Toren des Pantheons“ zusammenfaßte (1911). Als sich die tschechische Vorkriegsavant-garde formte, bestärkte er die Orientierung an der zeitgenös-sischen Kunst und am Finden der „zeitgemäßen Schönheit“. Ihn faszinierte damals auch die Philosophie Henri Bergsons. Seine Ansichten faßte er in der Sammlung „Es lebe das Leben“ zusammen (1920). N.s praktisch-philosophische und gedankliche Nachkriegserfahrung zeigte sich in vier Jahrgänge seiner Zeitschrift Červen (1918–1921). Um Červen versammelte er die junge künstlerische Generation, die sich zum Sozialismus und zur proletarischen Kunst bekannte. Als aktives Mitglied der „Föderation der Tschechischen Anarchisten und Kommunisten“ sah N. durch das Prisma des Anarchismus die gegenwärtige Situation. Er erwartete die sozialistische Veränderung der Gesellschaft. Bisher differenzierte er deutlich zwischen zwei Hauptströmungen des modernen Sozialismus: der autoritären Richtung („Bolschewismus“) und der freiheitlichen („freier Kommunismus“), zu der er sich noch 1919 bekannte. Trotz seines vorübergehenden Eintretens für den Nationalstaat lehnte er den Nationalismus ab. Er trat den neuzeitlichen Formen des Klerikalismus entgegen. Der Weltkrieg beendete nach N. die Epoche der ideologischen Entwicklungen. Nach dem Krieg kam für ihn die Zeit der „verwirklichenden Aktion“. Bereits im Jahre 1919 erkannte N. die Berechtigung anderer Konzeptionen des Sozialismus neben der anarchistischen an; wenig später sprach er sich für den leninistischen Sozialismus aus. Später negierte N. alle seine anarchistischen Standpunkte und faßte zusammen, daß „es dem Sozialismus nur mit der Methode des russischen Kommunismus auf Grundlage des Marxismus möglich ist, von der Theorie zu Taten überzugehen“ (1921). In der folgenden Zeit ging er als Kommunist von diesen politischen und weltanschaulichen Standpunkten aus. Er beschäftigte sich mit Fragen der proletarischen Kultur und Kunst als Klassenkunst, die von der sozialen Gegenwart ausgeht, dem Bezug zwischen Kommunismus und Kunst in der werktätigen Zivilisation, Kunst und Gesellschaft. Sein Verständnis der proletarischen Kultur und Ästhetik formte sich unter dem Einfluß von Maxim Gorki, W. I. Lenin, Anatol Lunatscharski und Wladimir Majakowski. In der zweiten Hälfte der 20er Jahre orientierte sich N. mehr an der eigenen literarischen Arbeit und am Schreiben populärwissenschaftlicher kulturhistorischer, soziologischer und ethischer Arbeiten für breitere Kreise der Arbeiterklasse und der linken Intelligenz: Dějiny lásky, 1925–1927 (Die Geschichte der Liebe), die Monographie Maximillian Robespierre, 1927, Francouzská revoluce (Die französische Revolution), 1929–1930, Dějiny ženy (Die Geschichte der Frau), 1931–1932. Daneben kehrte er auch zu Themen seiner Lebenserinnerungen zurück: Vzpomínky (Erinnerungen), 1931. In den 30er Jahren blieb im Zentrum seiner Aufmerksamkeit die Frage der derzeitigen sozialen Konflikte, die Betonung des engagierten Standpunkts des Künstlers auf der Seite der Arbeiter, die Ablehnung des Intellektualismus und die Verteidigung der russischen politischen Realität vor der Kritik am stalinistischen Terror: Československá cesta („Der tschechoslowakische Weg“) 1934–1935, Anti-Gide neboli Optimismus bez pověr a iluzí (Anti-Gide oder Optimismus ohne Aberglaube und Illusionen), 1937. Vom Beginn der 20er Jahre an, als er sich geistig zum Marxismus bekannte und aktiv dessen realen, leninistischen und später stalinistischen Standpunkt unterstützte, beharrte er bis zum Ende seines Lebens auf der politischen Position des Kommunismus, und aus diesem Blickwinkel entfaltete er seine kulturpolitischen, literarisch–ästhetischen und literaturkritischen Ansichten. Gedanklich am ausdrucksvollsten und interessantesten sind aber die seinerzeit schlagkräftigen bis provokanten Ansichten von der zweiten Hälfte der 90er Jahre des 19. Jahrh.s bis zu den 20er Jahren dieses Jahrh.s. Vaclav Tomek
Literatur u. Quellen: Werke
S. K. Neumann, Stati a projevy I. (1893–1903), Spisy sv. 2. (Abhandlungen und Reden I., Schriften Bd. 2), Prag 1964; Stati a projevy II. (1904– 1907), Spisy sv. 2. (Abhandlungen und Reden II., Schriften Bd. 4), Prag 1966; Stati a projevy III. (1908–1911), Spisy sv. 5. Abhandlungen und Reden III., Schriften Bd. 5), Prag 1969; Stati a projevy IV. (1912–1917), Spisy sv. 7. (Abhandlungen und Reden IV.‚ Schriften Bd. 7.), Prag 1973; Stati a projevy V. (1912–1917), Spisy sv. 7. (Abhandlungen und Reden V., Schriften Bd. 9), Prag 197l; Stati a projevy VI. (1922–1929), Spisy sv. 11. Abhandlungen und Reden VI, Schriften Bd. 11), Prag 1976. František Kautmann: S. K. Neumann: Člověk a dílo (“Mensch und Werk, 1875–1917), Prag 1966; Jaromír Lang: Neumannův Červen (Neumanns Juni), Prag 1974; Václav Tomek, Český anarchismus 1890–1925 (Tschechischer Anarchismus 1890–1925), Prag 1996; Václav Tomek, Ve jménu svobody. Ideje a proměny českého anarchismu na přelomu 19. a 20. století (Im Namen der Freiheit. Ideen und Transformationen in der Tschechischen Anarchismus an der Wende des 19. und 20. Jahrhundert), Prag 1999; Václav Tomek, Svoboda nebo autorita. Ideje a proměny českého anarchismu na přelomu 19. a 20. století (Freiheit oder Autorität. Ideen und Transformationen in der Tschechischen Anarchismus an der Wende des 19. und 20. Jahrhundert), Prag 1999; Václav Tomek, Český anarchismus a jeho publicistika 1880–1925 (Tschechischer Anarchismus und seiner Publizistik 1880–1925), Prag 2002; Václav Tomek u. Ondřej Slačálek, Anarchismus. Svoboda proti moci (Anarchismus. Freiheit gegen Macht), Prag 2006; Václav Tomek, Mozkem nebo pěstí? Horizont českého anarchismu na přelomu 19. a 20. století (Sein als Gehirn oder als Faust der Bewegung? Der Horizont des Tschechischen Anarchismus an der Wende des 19. und 20. Jahrhundert), Prag 2018.