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Reich, Wilhelm

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Lexikon der Anarchie: Personen

Dieser Artikel erschien erstmals in: Lexikon der Anarchie, hg. v. Hans Jürgen Degen. Bösdorf: Verlag Schwarzer Nachtschatten, 1993ff (Loseblattsammlung), 4. Lieferung Okt. 1996 (leicht überarbeitet: April 1998)


Wilhelm Reich, geb. 24. März 1897, Dobrzanica/Galizien (Österreich); gest. 3. November 1957, Lewisburg/Pennsylvania (USA).

Biographischer Abriss

Reich stammte aus der Bukowina, dem östlichsten Teil des ehemaligen österr.-ungarischen Reiches. Seine Eltern, Gutsbesitzer, hatten sich aus der jüdischen Tradition ihrer Vorfahren gelöst und der deutschen Kultur assimiliert, ohne jedoch einer christlichen Kirche beigetreten zu sein. Reich wurde zunächst durch Privatlehrer unterrichtet und besuchte später das Gymnasium der Provinzhauptstadt Czernowitz. Seine Jugend war von tragischen Ereignissen überschattet. Im Alter von zwölf Jahren wurde er durch den Selbstmord seiner Mutter, in dessen Vorgeschichte er sich verstrickt sah, seelisch stark traumatisiert. Fünf Jahre später, 1914, starb Reichs Vater an Tuberkulose, die er sich absichtlich zugezogen hatte. Reich hatte nun die Leitung des Gutes zu übernehmen, schloss daneben seine Schulausbildung mit dem Abitur ab, um anschliessend -- für dreieinhalb Jahre Soldat zu werden. Nach dem Krieg ging Reich, nunmehr mittellos, nach Wien und studierte Medizin (Dr. med. 1922).

Reich trat schon während des Studiums in Kontakt zu Sigmund Freud und wurde 1920 Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Seine Karriere als Psychoanalytiker, die eine Zeitlang glänzend schien, endete 1934 mit dem Ausschluss aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV). Die Vorgeschichte und der Hintergrund dieser unüblichen Massnahme sind zwar sehr interessant, aber zu komplex, um sie hier zusammenzufassen. Jedenfalls ist die verbreitete Auffassung, Reich sei wegen politischer Aktivitäten, die er einige Jahre lang im Rahmen sozialdemokratischer und kommunistischer Organisationen betrieb, von Freud und den Psychoanalytikern geächtet worden, oberflächlich. Der wahre Grund liegt in dem fundamentalen Gegensatz der "anarchistischen" anthropologischen Position Reichs zu der Freuds (s.u.).

Reichs Engagement in der Arbeiterbewegung hatte 1927 begonnen und endete 1933 (ebenfalls mit einem Ausschluss: aus der KPD -- Reich war 1930 nach Berlin übersiedelt). In dieser Zeit veröffentlichte Reich jene Schriften, die später den Anlass für seine Wiederentdeckung durch die Studentenbewegung von 1968ff gaben und ihn weithin als "Freudo-Marxisten" etablierten. Doch Reichs Position ist, wie sowohl die Abstossungsreaktionen von KPD und IPV als auch die zurückhaltende Rezeption Reichs durch die Theoretiker der Studentenbewegung zeigen, weder für Freudianer noch für Marxisten noch für Freudo-Marxisten akzeptabel.

Nach dem Ausschluss aus den Organisationen, auf deren theoretische bzw. ideologische Ausrichtung er mit seinen Ideen Einfluss nehmen zu können geglaubt hatte, versuchte Reich, unter Verzicht auf jegliche institutionelle Stützung die Eigenständigkeit seiner Position herauszuarbeiten.

Unter den Erschwernissen des Exils -- ab 1934 in Norwegen, ab 1939 in den USA -- begann Reich ausserdem, seine psychologischen und soziologischen Erkenntnisse durch eigene physiologische, biologische und später auch physikalische Forschungen zu untermauern. Er entwickelte einerseits seine psychotherapeutische Technik (die aus der Psychoanalyse hervorgegangene "Charakteranalyse") durch Einbeziehung des gesamten Organismus, insbesondere seiner vegetativen Funktionen, zur "Vegetotherapie" weiter (weshalb er heute oft auch als "Vater der Körperpsychotherapien" bezeichnet wird); und er drang andererseits durch gezielte experimentelle Forschung in immer elementarere Bereiche vor, bis er mit dem von ihm so genannten "Orgon" die "primordiale" kosmische Energie entdeckt zu haben behauptete.

Reichs wissenschaftlicher Werdegang, sein "Werk", das hier im Einzelnen weder vorgestellt noch beurteilt zu werden braucht, hat eine strengere innere Konsequenz, als dies in dieser knappen Skizze deutlich werden konnte. Wenn Reich mit seinen Theorien meist Ablehnung, ja Feindschaft provozierte, so scheint die wesentliche Ursache dafür gar nicht in seinen eigentlich wissenschaftlichen Aussagen zu liegen (oder in der Art, wie er sie präsentierte), sondern vielmehr in der ihnen zugrundeliegenden anthropologischen Grundauffassung, auf die allein hier, wo es um Reichs Bedeutung für den Anarchismus geht, näher einzugehen sein wird.

Schon im Verlauf seines Konflikts mit Freud und den Funktionären der psychoanalytischen Organisationen, der von diesen keineswegs argumentativ, vielmehr mit den Mitteln der politischen Intrige geführt wurde, wurde Reich als "Sexualanarchist" und "ethischer Anarchist" bezeichnet. Und die spätere, nicht weniger intrigante Kampagne, die in den USA schliesslich zu Reichs Inhaftierung und seinem Tod im Bundesgefängnis von Lewisburg führte, begann 1947 mit einem Magazinartikel folgenden Titels: The New Cult of Sex and Anarchy.

Diese Bezeichnungen Reichs als Anarchisten waren vage genug, um die übliche polemische Funktion zu erfüllen; gleichwohl deuten sie durchaus in die ideologische Richtung, der man Reich am ehesten zuordnen könnte. Zwischen Anarchisten und Reich gab es indes nur sehr geringe Kontakte. Eine Rezeption seines Werks durch Anarchisten ist nur in schwachen Spuren erkennbar. Der Nachruf auf Reich, der am 16. November 1957 in der Londoner Freedom erschien, referiert zwar sein Lebenswerk mit Sympathie, lässt aber nicht erkennen, welchen Wert man diesem für die Theorie des Anarchismus beimass.

Reich hat sich selbst nie als Anarchist bezeichnet. Er war der Meinung, dass die Anarchisten, gleich welcher Richtung, die ungeheure Problematik der Freiheitsunfähigkeit der gegenwärtigen Menschen stark unterschätzten bzw. ignorierten: "Sie vernachlässigen die hilflose, führungsbedürftige, ja oft autoritätssüchtige Struktur der Masse. Sie sehen nur deren Freiheitssehnsucht; doch diese Sehnsucht darf mit der Fähigkeit, frei zu sein ... nicht verwechselt werden." (zit. n. Laska, S.71f) Schliesslich hat Reich alle politischen Aktivisten (nicht speziell die Anarchisten), die mit der Parole der Freiheit operierten, verächtlich "Freiheitskrämer" genannt, Leute, die um eines zweifelhaften Profits willen etwas anpreisen, von dem sie selbst nicht wirklich wissen, was es ist.

Anthropologische Grundposition

Reich ist als Erforscher der Freiheitsproblematik in eine Reihe zu stellen mit (nur) zwei anderen aufklärerischen Denkern, die zu ihrer Zeit aufgrund einer ähnlichen Position von fast allen Aufklärern (von den Gegenaufklärern ohnehin) ebenso bekämpft oder geächtet wurden wie er, mit La Mettrie (1709-51) und Stirner (1806-56); als Vorläufer dieser dünnen Traditionslinie könnte Etienne de La Boëtie (1530-63) mit seiner Abhandlung über die "freiwillige Knechtschaft" gelten.

Reich kannte La Mettrie und Stirner; er erwähnt sie aber in seinen Schriften so selten, dass diese ideengeschichtliche Verortung Reichs angesichts der bei ihm im Vordergrund stehenden diversen Bezüge etwa auf Marx und Freud, angesichts seines oft betonten Selbstverständnisses als Naturforscher und angesichts anderer hervorstechender Aspekte seines Lebens und Werks einer ausführlichen Begründung bedürfte. Diese kann hier, schon aufgrund der Fülle des Materials, nicht gegeben werden. Hier kann nur, vergleicht man Reichs Werk mit einem Palimpsest, dessen unterste Schicht, die Reich selbst mehrmals überschrieb und deren Text nur an wenigen Stellen durchscheint, freizulegen versucht werden.

Zu der Zeit, als Reich sich der psychoanalytischen Bewegung Sigmund Freuds anschloss, hatte diese den inneren Konflikt, der aufgrund der "anarchistischen" -- vermeintlich nihilistischen -- Konsequenz jedes aufklärerischen Denkwegs in den meisten aufklärerischen Gruppierungen nachzuweisen ist, bereits hinter sich: rekonstruierbar anhand einiger, scheinbar marginaler, Ereignisse auf dem psychoanalytischen Kongress 1908. (Anm. 5.11.2002: vgl. hierzu: Bernd A. Laska: Otto Gross zwischen Max Stirner und Wilhelm Reich, insbesondere das Kapitel 4.1.1)

Der Psychiater und Nervenarzt Freud hatte damals bereits eine Reihe von Schriften veröffentlicht, in denen er seine Auffassung von der Ätiologie (Verursachung) der Neurosen darlegt. Freud lehrte, es gäbe bereits beim kleinen Kinde berechtigterweise sexuell zu nennende Triebregungen, deren notwendige "Verdrängung" in den psychischen Bereich des "Unbewussten", wenn sie "missglücke", zur Entstehung von Neurosen führe; für deren Heilung, d.h. zur Beseitigung der neurotischen Symptome, sei die Aufhebung dieser Verdrängung im psychoanalytischen Verfahren, gefolgt von einer bewussten Verurteilung der freigelegten Triebregung, Voraussetzung. Freud war sich der weit über den medizinischen Bereich hinausreichenden Bedeutung seiner Entdeckungen bewusst und sah sich in der Tradition von Aufklärern wie Feuerbach und Nietzsche.

Unter den wenigen, meist jüngeren Kollegen, die der bereits in seinem sechsten Lebensjahrzehnt stehende Freud (1856-1939) in jenen Anfangsjahren der Psychoanalyse für diese gewinnen konnte, waren zwei, die, unabhängig voneinander, die aufklärerische Potenz der Erschliessung des Unbewussten durch Freud weit höher veranschlagten als dieser selbst: Sándor Ferenczi (1873-1933) und Otto Gross (1877-1920).

Ferenczi trug auf jenem Kongress 1908 seine Gedanken über die allgemeineren Konsequenzen der Freud'schen Entdeckungen vor. Er vertrat, bestimmter als Freud, die Auffassung, dass von jener "missglückten" Verdrängung im Grunde jeder, also auch der symptomfreie "Normale" betroffen sei. Die bei jedem Menschen vorhandenen, verdrängten und durch die Verdrängung im Unbewussten "zu einem gefährlichen Komplex antisozialer und selbstgefährlicher Instinkte" gewordenen "Gedanken und Strebungen" könnten nur mit einem hohem Aufwand, "durch das automatische Wirken gewaltiger Schutzvorrichtungen unterdrückt...werden, [d.h.] mit moralischen, religiösen und sozialen Dogmen." Diese irrationale Funktionsweise der Verhaltenssteuerung durch "unappellierbare Prinzipien", argumentierte Ferenczi, sei nicht nur mit sehr viel überflüssiger Seelenqual und geminderter Genussfähigkeit verbunden, sondern obendrein offenkundig unzweckmässig. Die gesellschaftlich zu beobachtenden "Äusserungen der illogischen Arbeitsweise des Verdrängten" gäben Anlass, die bestehende, auf jenen Dogmen basierende Ordnung, die sich mittels derart zugerichteter Individuen "seit undenklichen Zeiten" immer wieder reproduziert, grundsätzlich in Frage zu stellen. Die durch Freuds Erkenntnisse ermöglichte "innere Revolution", so Ferenczi, könnte "die erste Revolution [sein], die der Menschheit eine wirkliche Erleichterung schüfe..." (zit. n. Sándor Ferenczi: Zur Erkenntnis des Unbewussten. Frankfurt/M 1989. S.63ff, 178ff)

Otto Gross, den Freud zeitweilig für einen der fähigsten Köpfe unter seinen Schülern hielt, vertrat auf dem gleichen Kongress ähnliche Auffassungen. Die beiden jungen Psychoanalytiker hatten die Vision eines Neuen Menschen: das wirklich freie, autonome, selbstbestimmte, d.h. das psychisch "gesunde" Individuum, sei, so Ferenczi, zwar nicht durch Massentherapie, aber durch Massenprophylaxe, also durch einen "radikalen Umsturz in der Pädagogik" auf der Grundlage der Freud'schen Entdeckungen in den Bereich des Möglichen gerückt.

Freud indes hielt wenig von diesen Konsequenzen seiner Lehre. Er brüskierte Gross nach seinem Vortrag 1908 mit der Ermahnung: "Wir sind Ärzte und wollen Ärzte bleiben." (Ein schieres Machtwort -- denn Freud selbst war stets nur notgedrungen Arzt.) Und er verweigerte Ferenczi die dringend erbetene Stellungnahme. Stattdessen veröffentlichte er noch im gleichen Jahre seine Schrift Die 'kulturelle' Sexualmoral und die moderne Nervosität, in der er, wie in einigen nachfolgenden, die kulturkonservative Generallinie der Psychoanalyse festlegte. Weder Ferenczi noch Gross gelang es, in der von Freud unangefochten dominierten psychoanalytischen Bewegung Interesse für ihre anarchistische Perspektive zu wecken. Gross wurde bald zum "Fall" und starb, von Freud ignoriert, im Jahre 1920. Ferenczi unterband seine radikalen Ambitionen und wurde für lange Zeit Freuds engster Mitarbeiter.

Reich scheint, als er sich 1920 der psychoanalytischen Bewegung anschloss, von dem mehr als ein Jahrzehnt zurückliegenden, von Freud im Keim erstickten "anarchistischen" Vorstoss nicht erfahren zu haben. Seine Beiträge zur psychoanalytischen Diskussion, die Anfang der 20er Jahre einsetzten, waren zunächst vorwiegend technischer Natur und liessen seine weltanschauliche Position kaum erkennen. Postum wurden aber Tagebucheinträge des jungen Reich bekannt, von denen der prägnanteste ein Schlaglicht auf seine von Beginn an bestehende, zunächst verborgene "anarchistische" Opposition wirft: "Max Stirner, der Gott, der 1844 sah, was wir 1921 nicht sehen!" (Zit. n. Laska, S.16) Wir -- damit sind natürlich sie, die psychoanalytischen Kollegen, gemeint.

Öffentlich erwähnte Reich den verpönten Stirner, dem er hier einen sonst von ihm nie verliehenen superlativischen Titel gab, nirgends; die Nennung von dessen Einzigem in der Bibliographie seines letzten grösseren Werkes, Christusmord (1953, dt. 1978), verrät allerdings dessen dauerhaften latenten Einfluss. Reich vermied zunächst, innerhalb der psychoanalytischen Bewegung mit Argumenten zu operieren, die als ideologisch motiviert erscheinen könnten. Seine Strategie bestand vielmehr darin, durch Publikation der Ergebnisse seiner oft als herausragend anerkannten, rein klinischen Arbeit scheinbar beiläufig die ideologische Begrenztheit der von Freud geprägten Psychoanalyse aufzuzeigen, in erster Linie deren Unvermögen, zu einem anderen Heilungs- bzw. Gesundheitskriterium zu kommen als dem der Realitätstüchtigkeit und Angepasstheit in der jeweils vorgefundenen Gesellschaftsordnung.

Reich entwickelte, auf der Basis der Freud'schen Lehre von der sexuellen Ätiologie der Neurosen, ein solches Kriterium, das nicht solchermassen beliebig, sondern an der psycho-physischen Organisation des Menschen orientiert war: die volle sexuelle Befriedigbarkeit bzw. orgastische Potenz. In Reichs Typologie der Charaktere, die aus der psychoanalytischen hervorging, hiess der nach diesem Kriterium Gesunde: genitaler Charakter; dieser war zugleich (was hier nicht begründet werden kann) auch der wahrhaft freie, autonome, sich selbst steuernde Mensch -- der allerdings mit der derzeit bestehenden, von der massenhaften Neurose geprägten Gesellschaftsordnung eher in Konflikt als in Frieden lebt.

Freud -- ebenso der Tross der Psychoanalytiker -- wollte diesen zweiten "anarchistischen" Vorstoss innerhalb der Psychoanalyse wiederum erst gar nicht diskutieren, sondern ebenso ersticken wie den ersten: er schwieg nachhaltig. Doch Reich blieb standhaft widersetzlich und festigte seine Position mit weiteren soliden klinischen Arbeiten, so dass Freud schliesslich nur noch den Ausweg sah, Reich mit administrativen Mitteln kaltzustellen -- was bald geschah. Dieser Coup, sein Gelingen in einer Gruppe, die sich dezidiert als aufklärerisch, freigeistig, liberal etc. verstand, sowie der nachfolgende Umgang mit ihm ist in seinen verschiedenen Aspekten eines der erhellendsten, gleichwohl ein noch ungeschriebenes Kapitel zur Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts.

Die praktische Bedeutung des Kriteriums der "orgastischen Potenz" schätzte Reich dabei nicht einmal hoch ein. Denn es war offenkundig, dass nach Lage der Dinge, bei konstatierter Massenhaftigkeit der Neurose, mit therapeutischen Anstrengungen kaum ein nennenswerter Erfolg zu erreichen war -- oft nicht einmal beim Individuum, das aus verschiedensten Gründen gar nicht nach diesem Kriterium zu heilen war. Sollte jene grosse, qualitativ neue "innere Revolution" (s.o.) stattfinden, sollten neue, aufgeklärte, erstmals freiheitsfähige Menschen entstehen, so konnte dies nur durch Neurosenprophylaxe im Massenmassstab, durch Umwälzung der Erziehungspraxis, bewirkt werden -- was einer "äusseren Revolution" gleichkäme.

Eine radikale Reform der Erziehung hatte schon Ferenczi 1908 gefordert, zu Freuds Verdruss mit vage anarchistischem Anklang. Doch Ferenczi hatte auch später noch, als er zu Freuds engstem Kreis gehörte, prophezeit, eine solche psychoanalytisch aufgeklärte Reform führe zu einer gesellschaftlichen "Neuordnung ... die nicht nur auf die Interessen einzelner Mächtiger Rücksicht nimmt." Jede Einschränkung der Individualität, der "Staat", dürfe allenfalls "eines der Mittel zum Wohle des Individuums sein." (Ferenczi, a.a.O., S. 215f) Warum tolerierte Freud jetzt (und später) derartige Ansichten bei seinen Schülern, während er Reichs Position nicht ertrug?

Der Grund scheint im Kern darin zu liegen, wie Reich die Neurosenprophylaxe durch Erziehungsreform, die Hervorbringung des neuen, freiheitsfähigen Menschen, konzipierte. Ferenczi hatte geschrieben, die "durch die Psychoanalyse belehrte Pädagogik" der Zukunft werde mit den verschiedensten Methoden operieren, jedenfalls "mit kluger Diplomatie ... die Charakterbildung in zweckmässige Bahnen lenken." Dieses Projekt, die Aufstellung besserer, humanerer, effektiverer, jedenfalls positiver Erziehungsregeln und -ziele, die auf ein gesellschaftliches Ideal ausgerichtet sind, entsprach den Vorstellungen auch vieler anderer Psychoanalytiker. In Freuds neuer, 1923 eingeführter Terminologie liesse es sich so formulieren: die (dank psychoanalytischer Erkenntnisse) auf schonende Weise erfolgende Introjektion eines ideal konzipierten Über-Ich. Dieses Über-Ich, das im Individuum als Sitz von Wertempfinden, Moral, Gewissen etc. fungiert, sollte nicht zu schwach sein -- damit es das erwünschte Verhalten durchsetzen kann -- und nicht zu stark -- damit es nicht zu Leistungsminderung, Krankheit oder sozialen Auffälligkeiten kommt.

Reich wandte sich in einer Arbeit Der Erziehungszwang und seine Ursachen (1926, s. Laska, S. 142) gegen dieses Konzept. Er hob dort die Wirksamkeit unbewusster Motive der (neurotischen) Erzieher hervor, sprach von "Erziehung als Neuroseäquivalent der Erwachsenen" und führte eine Reihe psychoanalytischer Argumente auf, warum aktive Erziehung, auch bei besten Absichten, zur Neurotisierung der Heranwachsenden führt. Reich gab deshalb "nur eine negative Regel: Enthaltsamkeit in der Erziehung bis zum äussersten, Einschränkung der Erziehungsmassnahmen auf die allernotwendigsten Versagungen."

Anders formuliert, ging es für Reich darum, dass zu verhindern wäre, dass im Individuum ein Über-Ich im Freud'schen Sinne entsteht. Denn diese psychische Instanz als solche ist -- und beinhalte sie die "richtigsten", ja anti-autoritäre, Normen -- der Inbegriff von Heteronomie. Entscheidend jedoch ist die durch mehrtausendjährige Menschheitspraxis belegte und durch konsequente psychoanalytische Forschung aufgeklärte Kontraeffektivität der Verhaltenssteuerung durch ein Über-Ich: "'Moral' schafft erst dasjenige Triebleben, zu dessen sittlicher Beherrschung sie sich berufen ausgibt; und der Wegfall dieser Moral ist die Vorbedingung des Wegfalls der Unmoral, die zu beseitigen sie sich vergeblich bemüht." (zit. n. Laska, S.78) Reichs Programm zur Verwirklichung des neuen, freiheitsfähigen, sich selbst steuernden, wahrhaft autonomen Menschen lautet, in Freud'scher Terminologie: Abbau und schliessliche Eliminierung des Über-Ich.

Reich selbst beschrieb sein Programm nicht in diesen Begriffen. Dafür gab es mehrere Gründe: persönliche (die in seinem Verhältnis zur Person Freud liegen), taktische (die mit seiner Stellung in der Gruppe der Psychoanalytiker zu tun haben), vor allem aber sachliche: Indem Reich sich mit der Entwicklung der Psychoanalyse zur Charakteranalyse und zur (den Gesamtorganismus einbeziehenden) Vegetotherapie von der psychoanalytischen Orthodoxie entfernte, entwickelte er auch eigene Modellvorstellungen und Termini, die von denen der Freud'schen Metapsychologie (Es, Ich, Über-Ich) abweichen. Er sprach nun z.B. von der "physiologischen Freiheitsunfähigkeit" des jetzigen Menschen, die zu erkennen und zu bewältigen sei, damit der Kampf um Freiheit nicht mehr, wie bisher stets, in eine neue Art von Unfreiheit münde. (vgl. dazu: Massenpsychologie..., S.308-348)

In vorliegender Darstellung wurde, zugunsten der Allgemeinverständlichkeit, so weit wie möglich auf (Reich'sche wie Freud'sche) Fachausdrücke verzichtet. Einige waren freilich unvermeidbar, und da schien es am zweckmässigsten, jene zu verwenden, die, wie etwa "Über-Ich", bereits weitgehend in die Normalsprache eingegangen sind. Massgeblich war ihre Verwendbarkeit für den Zweck dieses Artikels: Reichs Bezug zur Theorie der Anarchie freizulegen.

Reichs potentielle Bedeutung für den Anarchismus

In der neuzeitlichen Aufklärung haben einige der berühmtesten ihrer Vertreter gerade diejenigen Denker, die die anarchistischen Konsequenzen eines genuin aufklärenden Denkens hervorhoben und auszuarbeiten versuchten, erbittert bekämpft, und zwar bezeichnenderweise nicht nach den von ihnen selbst propagierten Regeln rationaler, fairer Argumentation, sondern -- wie Reich verächtlich sagen würde -- auf "politikante" Weise: durch Intrige, Verleumdung, Totschweigen etc. Ihren bis heute anhaltenden Publikumserfolg verdankten sie dann nicht zuletzt ihrem kastrierenden Plagiieren, virtuosen Zerreden und gelehrsamen Verschütten der von ihnen im Denken jener Verfemten aufgespürten radikalen Inhalte. So lässt sich, aus heuristischen Gründen zugespitzt, das Verhältnis der französischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts zu La Mettrie, das von Marx und Nietzsche zu Stirner und das Freuds und der Psychoanalytiker zu Reich auf den Punkt bringen.

Die Rolle der "klassischen" anarchistischen Theoretiker in diesem Prozess liesse sich am besten an ihrem Verhältnis zu Stirner aufzeigen (vgl. a. Individualistischer Anarchismus). Reich, der ab Mitte der 20er Jahre wirkte, wurde von späteren anarchistischen resp. libertären Autoren nur sehr selten und jedenfalls nicht in seiner radikalen Spezifität wahrgenommen. Man kann deshalb nur von seiner potentiellen Bedeutung für die anarchistische Theorie/Praxis sprechen. Um sie zu bestimmen, scheint -- aus den angedeuteten Gründen -- eine Revision des gesamten Prozesses der "sozialistisch" und/oder "liberalistisch" abgebogenen Aufklärung erforderlich; oder, richtig herum gesagt: um zu einem Verständnis der Degeneration der neuzeitlichen Aufklärung und des Schicksals ihrer anarchistischen Komponenten zu kommen (und daraus Schlüsse für die gegenwärtige Situation zu ziehen), erscheint das klärende Eruieren der Rolle Reichs (sowie Stirners und La Mettries) in diesem Prozess (das "LSR-Projekt") als erfolgversprechender Ansatz.

Literatur

Von Reich (Auswahl)

  • Die Sexuelle Revolution, Frankfurt/M 1966 (1936)
  • Die Funktion des Orgasmus, Köln 1969 (engl. Übers.1942)
  • Massenpsychologie des Faschismus, Köln 1971 (engl. Übers.1946, Urfassung 1933)
  • Charakteranalyse, Köln 1970, neue Teilübers. 1989 (engl. Übers.1949, Urfassung 1933)
  • Christusmord, Olten u. Freiburg 1978 (engl. Orig.1953)
  • Menschen im Staat, Frankfurt/M 1982, neu ed. 1995 (engl. Übers.1953)

Über Reich (Auswahl)

  • Bernd A. Laska, Wilhelm Reich, Reinbek (1981), 5., aktualisierte Auflage 1999 (enth. Bibliographie)
  • Myron Sharaf, Wilhelm Reich, Berlin 1994 (engl.1983)

Autor: Bernd A. Laska