Lecoin, Louis
Louis Lecoin (L.), geb.: 1888, St.-Amand-Montrond, gest.: 23. Juni 1971, Paris.
Inhaltsverzeichnis
Lebensdaten: politische Entwicklung, besondere theoretische u. organisatorische Bedeutung
L. wächst als „mittleres‘ von sieben Geschwistern in der Kleinstadt Saint-Amand-Montrond in Mittelfrankreich auf. Er bezeichnet seine Kindheit als eine glückliche Zeit, obwohl die materiellen Umstände schrecklich waren. Trotz schwerer Arbeit des Vaters als Tagelöhner reicht der Lohn nicht, um die Familie zu ernähren. L. muß als Kind erleben, daß er und seine Geschwister nur durch zusätzliche Einnahmequellen überlebten: staatliche Wohlfahrt, Betteln bei reichen Bürgern und bei der Kirche, gelegentliche Prostitution der Mutter, Sammeln von Holz und Früchten, ab und zu (ohne Wissen des Vaters) kleinere Diebstähle. Nach dieser Kindheit hat L. eine heftige Abneigung gegen das Betteln und die damit verbundene Scham. desgleichen haßt er die Katholische Kirche. Er will Berufssoldat werden, möglichst in den Kolonien - nicht nur aus materiellen Gründen, sondern auch überzeugt und mitgerissen von patriotischen Phrasen.
Ab 1901 wird L. als Landwirt und Gärtner ausgebildet, empfindet diese Zeit aber mehr als Ausbeutung, weniger als Lehrzeit.
1904, zwei Jahre bevor er das Mindestalter für die Armeelaufhahn erreicht, beginnt er eine Arbeit als Gärtner in Paris. Dort lernt er gewerkschaftlich organisierte Kollegen kennen, u. a. einen Exil-Bulgaren, der ihm sozialistische Ideen vermittelt.
1906, anlässlich eines Gärtnerstreiks, nimmt L. an Direkten Aktionen der Gewerkschaft - CGT (Confédération Générale du Travail) teil (u. a. Zerstören von Gewächshäusern). Er hört eine Rede des Sozialisten Jean Jaurès, welcher ihn sehr beeindruckt. Erste Verhaftung während einer Demonstration: L. wird „als Anarchist“ verhaftet, obwohl er noch kaum weiß, was ein Anarchist ist.
1909 wird L. zum Militärdienst eingezogen. Er folgt dieser Einberufung, da er nur so eine Möglichkeit sieht, nach der Zeit bei der Armee weiter gewerkschaftlich tätig zu sein. Als Flüchtling im Exil könnte er das nicht. Beim großen Eisenbahnerstreik 1910 weigert sich L., an einem Einsatz gegen die Arbeiter teilzunehmen. Das bringt ihm eine Gefängnishaft bis 1911 ein. Seine Militärdienstzeit geht bis 1912.
Durch seine Gewissensentscheidung und durch seine Haft ist L. so bekannt, daß er 1912 Sekretär der FCA (Fédération Communiste Anarchiste) wird und verantwortlich zeichnet für deren Zeitschrift ‚.Le Libertaire‘, obwohl er kaum lesen und schreiben kann und die anarchistischen Theorien wenig kennt. Gleichzeitig arbeitet er als Bauarbeiter und ist aktiv in der Zementarbeitergewerkschaft.
1912 - 1920: Mehrfach im Gefängnis wegen Veröffentlichung von Schriften gegen den Krieg und wegen Wehrdienstverweigerung zu Beginn des 1. Weltkrieges. Zwischen den einzelnen Haftstrafen ist L. jeweils nur wenige Tage auf freiem Fuß.
1916 lernt L. Sébastian Faure kennen. Später werden die beiden des öfteren zusammenarbeiten.
1917 plant L., den Staatspräsidenten (und Kriegstreiber) Raymond Poincaré zu ermorden. Auch den ehemaligen Libertären Gustave Hervé, der inzwischen den Krieg befürwortet, will L. ermorden. Beide Attentate scheitern schon im Ansatz, weil L. nicht nahe genug an die „Opfer“ herankommt.
1920 - 1939: Wieder Arbeit auf dem Bau. Engagement zugunsten besserer Haftbedingungen für politische Gefangene. Mitarbeit hei der neugegründeten F. A. (Fédération Anarchiste): L. wird Redaktionssekretär von deren Zeitschrift „Le Libertaire. Weiterhin Mitarbeit bei der CGT, die zu diesem Zeitpunkt noch eine Einheitsgewerkschaft ist, in der Sozialisten, Kommunisten und Anarchisten organisiert sind. L. heiratet Marie Morand. Diese ungewöhnliche und energische Frau, selbst Anarchistin, Kriegsgegnerin und Gewerkschafterin bei der Post, unterstützt L. in seiner politischen Arbeit und muß ihn später auch jahrelang miternähren - neben ihren eigenen politischen und gewerkschaftlichen Aktivitäten und neben der Erziehung der gemeinsamen Tochter.
L. gründet und leitet das „Sacco und Vanzetti-Komitee‘ zur Rettung der beiden zum Tode verurteilten amerikanischen Anarchisten. Gleichzeitig führt er das „Asylrechtskomitee (zur Verteidigung der spanischen Exil-Anarchisten Francisco Ascaso, Buenaventura Durruti und Gregerio Jover). Ab 1936 liefert das von L. gegründete ‚‚Komitee für ein freies Spanien‘ Kleidung, Nahrung, Waffen und Munition an die Spanische Republik und unterstützt Exilspanier. Die zeitraubenden politischen Aktivitäten kann L. nur bewältigen, weil er inzwischen als Teilzeitkraft eine Stelle im Druckereigewerbe gefunden hat.
Bei Beginn des II. Weltkrieges 1939 verspürt L. in Frankreich eine tiefe Apathie vorherrschen: keine Kriegsbegeisterung wie 1914, aber auch kein öffentlicher Widerstand gegen den Krieg. L. schreibt und verbreitet das Flugblatt „Paix Immédiate!“ (Sofortiger Frieden!), wofür er bis 1941 im Gefängnis eingesperrt wird. Er erlebt die unmenschlichen Haftbedingungen unter denen insbesondere jüdische Gefangene leiden. Außerdem existiert während L.s Haft gegenseitige Hilfe und Solidarität, teilweise auch freundschaftliche Kontakte zu kommunistischen und auch rechtsextremen Häftlingen, später auch zu inhaftierten sozialistischen und bürgerlichen Politikern.
1948 gründet L. die Zeitschrift „Défense de l’ Homme“ (Verteidigung des Menschen) mit zunächst 700 Abonnenten. Er fordert „Amnestie für alle“, auch für Anhänger des Vichy-Regimes und der Nationalsozialisten. 1956 will sich L. aus der Politik zurückziehen. Der Tod seiner Frau Marie Lecoin gibt ihm aber einen Ansporn, sich um die Befreiung der inhaftierten Kriegsdienstverweigerer zu bemühen. Neben der Befreiung dieser Menschen ist L.s Ziel die Verabschiedung eines Statuts für Kriegsdienstverweigerer in Frankreich. Zu diesem Zweck gründet L. am 31. Januar 1958 die Wochenzeitung „Liberté“ (Freiheit). Mit Pressekampagnen., mit Unterstützung durch Künstler, Kirche, Intellektuelle, durch Lobbyarbeit im Parlament, vor allem aber durch einen Hungerstreik (den er last nicht überlebt) setzt L. das gesetzliche Statut für Kriegsdienstverweigerer am 21.12.1963 durch. Der gemeinsame Entwurf für das Statut von Albert Camus und L. wird allerdings vom Parlament verwässert: Das Militär erzwingt Änderungen gegen die Verweigerer.
1964 gründet L. ein neues „Komitee Freies Spanien“, dessen Ziel die Vertreibung des spanischen Diktators Francisco Franco und die Errichtung der Demokratie in Spanien ist.
1966 wird L. als Kandidat für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Das Komitee, welches seine Kandidatur unterstützt, besteht aus bekannten Künstlern und Intellektuellen, z. B. der Frau von Albert Camus (siehe: Camus, Albert), Jean Paulhan und Manès Sperber. Im Rahmen der Ereignisse vom Mai 1968 bezieht L. Stellung für die protestierenden Studenten.
Positionen
Angelpunkte von L.s politischer Tätigkeit sind der Kampf gegen den Krieg und die Armee, sowie das Engagement gegen Gefängnisse und Folter. Seinen Einsatz für die Republik im Spanischen Bürgerkrieg bereut er nie, stellt aber nachträglich fest, daß ein kampfloses Ergreifen der Macht durch F. Franco doch weniger schrecklich gewesen wäre als sein blutiger Sieg 1939. L. unterstützt und befürwortet Attentäter (Germaine Berton u.a.), unterstreicht aber, daß der Haß zwar ein Mittel zur Befreiung sein kann, daß aber der Aufbau der anarchistischen Gesellschaft durch Solidarität und Liebe erfolgen müsse. Wesentlich für L.s politisches Wirken ist seine Offenheit für die Zusammenarbeit mit Andersdenkenden, das Fehlen von Berührungsängsten: Er sucht erfolgreich Kontakte mit Kommunisten, Sozialisten, mit liberalen und konservativen Parlamentariern, mit der Katholischen und Evangelischen Kirche, mit der Jüdischen Gemeinde, der (bürgerlichen) Liga für Menschenrechte, der Presse (z. B. „Figaro“, „Canard Enchainté“), Malern, Sängern und Dichtern, mit fast allen Bürgermeistern der französischen Großstädte, Freidenkern und Freimaurern, Marie Curie, dem Staatspräsidenten Italiens ... Weniger erfolgreich sind seine Versuche, den Papst und die Zeugen Jehovas zu einer Zusammenarbeit zu gewinnen. Auf diese weitläufigen Kontakte angesprochen, sagt L.: „Um Spanien zu retten, lecke ich auch die dreckigsten Füße.“
Stellenwert innerhalb des libertären Spektrums
L. selber weist darauf hin, daß er sich in Theoriedebatten fehl am Platze fühlt, aber bei Aktionen immer eine führende Rolle spielt. Er bezeichnet sich als „Anarchisten der alten Schule“. Die Spaltungen der französischen Gewerkschaftsbewegung bedauert L., kann sie aber nicht verhindern. Die erfolgreiche Arbeit für F. Ascaso, B. Durruti und G. Jover, die große Kampagne für Sacco und Vanzetti und das erkämpfte Statut für Kriegsdienstverweigerer werden von der französischen Öffentlichkeit als Werk von L. betrachtet. Wohl kein anderer französischer Anarchist stand ein halbes Jahrhundert lang so im Licht der Öffentlichkeit.
Autor: Stefan Preuß
Literatur und Quellen
- L. Lecoin: De Prison en Prison, Paris o.J. (1945?), vergr., neuveröffentlicht in: L. Lecoin: Le Cours d’une Vie, Paris 1965 (keines dieser beiden Werke wurden ins Deutsche übersetzt)
- H. Rüdiger: Anarkisten Louis Lecoin kandidat til freds-prisen, in: „Demokraten“, Dänemark 22.5. 1 966
- Cécilia und Normann: Ein Leben für Antimilitarismus und Anarchismus, in: Graswurzelrevolution Nr 202, Nov. 1995, S15: Hier findet man Einzelheiten über L.s Mitarbeit in verschiedenen anarchistischen Gruppen, über deren Spaltungen, Fraktionsbildungen und Zusammenschlüsse.
Weblink
In Frankreich ist die Union Pacifiste de France (UPF, Sektion der War Resisters International (WRI) in der Tradition von Louis Lecoin tätig. Die UPF arbeitet mit der Fédération Anarchiste (FA) zusammen, u.a. im Radio Libertaire (Paris).
UPF http://www.unionpacifiste.org
FA: http://www.federation-anarchiste.org
Maurice Montet, Sekretär der UPF, ist im Sinne des politischen Vermächtnisses von Louis Lecoin aktiv. Foto mit M. Montet neben der Urnenstelle auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise. (April 2009)