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Lexikon der Anarchie: Personen
Inhaltsverzeichnis
1. Äußere Daten
William Godwin, geb.: 3. März 1756 in Wisbeach, Cambridgeshire, England; gest.: 7. April 1836 in London.
Godwin, politischer Philosoph und Schriftsteller der englischen Romantik, wurde in eine calvinistische Predigerfamilie hineingeboren. Unter dem Einfluß einer streng religiösen und vom radikalen Nonkonformismus der protestantischen „Dissenters“ gezeichneten Erziehung nahm Godwin 1773 das Studium der Theologie auf. Außerdem begann er, sich mit der zeitgenössischen Philosophie zu beschäftigen, deren u.a. auch religionskritischen Inhalte ihn stark beeinflussten. Schließlich gab er seine 1778 übernommene Tätigkeit als „Dissenters“-Prediger auf. Er wurde Atheist und begann, als Journalist und Privatlehrer Novellen und politische Schriften zu veröffentlichen.
Entscheidend für seine geistige Entwicklung wurde der Ausbruch der französischen Revolution (1789). Godwin, der sich intensiv mit der französischen Aufklärungsphilosophie auseinandergesetzt hatte, war zunächst begeistert, fühlte sich aber bald von den autoritären Entwicklungen in Frankreich abgestoßen: Immer deutlicher traten seine Vorstellungen in Gegensatz zu jenen englischen Radikalen, die der Faszination des jakobinisch-etatistischen Revolutionsideals unterlagen.
Ausfluss dieses Prozesses war sein politisches Hauptwerk „An Enquiry concerning the Principles of Political Justice, and its Influence on General Virtue and Happiness“, Erstausgabe in zwei Bänden 1793 (deutsch: „Eine Untersuchung über politische Gerechtigkeit und ihren Einfluss auf Tugend und Glück aller“ [Godwin 2004]). Ursprünglich als eine kritische Entgegnung auf Montesquieu geplant, entwickelte Godwin in diesem Werk seine politischen Ansichten zu einer Radikalität, die weit über die seiner fortschrittlichen Zeitgenossen hinausging: Es stellte die konsequenteste Zuspitzung der antikapitalistischen Bestrebungen seiner Zeit dar und gipfelte in dem Entwurf einer staatenlosen Gesellschaft auf der Grundlage absoluter Freiheit und ökonomischer Gleichheit eines jeden Individuums. Damit wurde Godwin – in den Worten seines Biographen Pierre Ramus – „... der erste wissenschaftliche Begründer des Anarchismus, sein historisch erster ... Theoretiker“ [Ramus 1907, S. 80].
Obwohl Godwin wesentliche theoretische Grundpositionen späterer anarchistischer Theorien antizipierte, mochte er das von ihm projektierte herrschaftsfreie Gesellschaftsmodell doch nicht mit dem Titel „Anarchie“ belegen; dem zeitgenössischen Sprachgebrauch folgend verwandte er diesen Begriff noch negativ im Sinne von Chaos und Unordnung – wenn er freilich auch der so verstandenen „Anarchie“ eindeutig den Vorzug vor dem „Despotismus“ gab.
Seine „Politische Gerechtigkeit“ fand einen für damalige Verhältnisse glänzenden Absatz. Schon ein Jahr später veröffentliche Godwin sein wichtigstes literarisches Werk, „Things as They Are; or, the Adventures of Caleb Williams“, Erstausgabe in drei Bänden 1794. Rudolf Rocker charakterisierte diesen Roman folgendermaßen: Godwins „... Novelle ‚Caleb Williams oder Die Dinge, wie sie sind‘ ... bildet sozusagen den dichterischen Niederschlag der Gedanken, denen er in seinem philosophischen Hauptwerke nachgegangen war. ... Auf diese Weise entstand ein Werk mit ausgesprochen revolutionären Gedankengängen, das ganz im Geiste der Romantik geschrieben war. ... Der Roman ‚Caleb Williams‘ ... ist die Tragödie der Gesetze, in seinem tiefsten Sinne die Tragödie der Macht im allgemeinen“ [Rocker 1931, S. VI – VIII].
Neben einem großen Publikumserfolg hatte „Caleb Williams“ auch einen nachhaltigen Einfluss auf die englische Literatur. In den neunziger Jahren machte sich Godwin einen Namen durch heftige publizistische Attacken und erfolgreich durchgeführte Pressekampagnen gegen die englische Regierung der großbürgerlichen Whigs, die mittels scharfer innenpolitischer Repression den von Frankreich herübergewehten Geist der Revolution zu ersticken suchte.
1797 heiratete Godwin die bekannte Schriftstellerin und erste Frauenrechtlerin Englands, Mary Wollstonecraft. Dieser formale Eheschluß war eine Konzession an die puritanisch-prüde Moral ihrer Zeit – waren sich doch beide in der entschiedenen Ablehnung der Institution Ehe als Einschränkung der freien Entfaltung der Verheirateten einig. Dementsprechend betrachteten sich Godwin und seine Frau auch weiterhin als ungebundene und völlig autonome Individuen. Noch in demselben Jahr allerdings fand diese Beziehung mit dem Tod von Mary Wollstonecraft ihr jähes Ende. Von diesem Schicksalsschlag erholte sich Godwin nie. Es gelang ihm nicht mehr, etwas gleich Bedeutendes wie die „Politische Gerechtigkeit“ auf politisch-philosophischem, oder „Caleb Williams“ auf poetischem Gebiet zu produzieren.
2. Politischer Werdegang
2.1. Die Wurzeln des Godwinschen Denkens
Es war kein Zufall, dass 1793 mit Godwins „Politischer Gerechtigkeit“ die erste ausformulierte philosophische Begründung des Anarchismus ausgerechnet in England und nicht etwa in Frankreich, dem Land der großen Revolution, erschien.
Der philosophische Zeitgeist Frankreichs war dominiert von der Staatsphilosophie Jean-Jacques Rousseaus. Mit seiner „Gesellschaftsvertrags“-Theorie („Du contrat social“; 1762) hatte dieser den geistigen Boden für die revolutionäre Empörung gegen das „alte Regime“ bereitet. Seine Thesen von der Notwendigkeit der völligen Unterordnung des einzelnen unter den – im demokratischen Staat verkörperten – „Gemeinwillen“ hatten jedoch zugleich die Begründung geliefert für den autoritären Glauben an die positive und umfassende Kraft des Staates. Das jakobinische Streben nach einer starken zentralistischen Staatsmaschinerie war nichts anderes als die politische Konsequenz dieser Gedanken.
Die radikale englische Philosophie hingegen stand am Ende des 18. Jahrhunderts ganz im Zeichen einer entgegengesetzten Ideenströmung, die in Godwin ihren Höhepunkt fand: im Zeichen des staatskritischen politischen Individualismus. Seine Vertreter waren u.a. Joseph Priestley, Richard Price, Thomas Paine, der frühe Edmund Burke und Jeremy Bentham. Das Grundlegende ihres Denkens war die feste Überzeugung, dass das größte Glück für die gesellschaftliche Allgemeinheit nicht etwa durch eine möglichst „gute“ und starke Regierung, sondern allein durch die freie Entwicklung eines jeden Individuums gewährleistet werden kann. Daraus entwickelten sie die Forderung nach einer weitgehenden Einschränkung der Machtbefugnisse des Staates. Dieser selbst blieb von ihnen aber in der Regel unberührt. Erst Godwin entfaltete diesen philosophischen Ansatz durch die grundsätzliche Negierung der Staatlichkeit zu seiner vollen politischen Konsequenz.
Auf ökonomischem Gebiet wurde Godwin durch englische Frühkommunisten wie Richard Woodward, Thomas Spence und vor allem William Ogilvie beeinflußt. Aus der Kritik der sozialen Folgen der Herrschaft der Grundbesitzer-Oligarchie sowie der in England bereits eingesetzten kapitalistisch-industriellen Entwicklung hatten diese in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Ideen einer kommunistischen Eigentumsordnung entwickelt.
2.2. Godwins „Untersuchung über politische Gerechtigkeit“
Den Ausgangspunkt von Godwins politischen Gedankengängen bildet die These, dass der wahre Weg zu individuellem und gesellschaftlichem Glück die „Gerechtigkeit“ ist, unter welcher er das ethische Prinzip solidarischer zwischenmenschlicher Beziehungen versteht. Gerecht zu sein, d.h. „Menschenliebe“ zu üben, ist aber eigentlich das natürliche Verhalten eines jeden. Denn „Gerechtigkeit“ ist das oberste, unveränderliche Vernunftgesetz und der Mensch ist „... im besten Sinne ein vernunftbegabtes Wesen ... [und] zur Übung der Verstandestätigkeit bestimmt ...“ [Godwin 2004, S. 607 und S. 500]. Wenn das Individuum also seine intellektuellen Fähigkeiten entfaltet und sich dabei allein auf die Autorität der eigenen Vernunft und des eigenen Gewissens verläßt, so gelangt es ganz von selbst zur „sittlichen Vervollkommnung“. Die derart von den einzelnen erlangte Mündigkeit und Tugendhaftigkeit muss zu einer zivilisierten, harmonischen und glücklichen Gesellschaft führen.
Vor dem Hintergrund dieser Prämissen enthüllt sich Godwin die Ursache für den trostlosen Zustand der Gesellschaft: Es ist die Herrschaft des Menschen über den Menschen, welche seiner natürlichen sittlichen Vervollkommnung entgegensteht und daher dafür verantwortlich ist, dass die Geschichte eine einzige Abfolge von Verbrechen und gegenseitiger Selbstvernichtung darstellt. Herrschaft führt nicht nur zur moralischen Pervertierung derjenigen, welche sie ausüben, sondern auch derjenigen, welche ihr unterworfen sind. Denn die über Zwang und Manipulation vermittelte Fixierung auf Autoritäten und entfremdete Institutionen erzeugt bei den Beherrschten eine Mentalität blinden Gehorsams, die gleichbedeutend ist mit der Außerkraftsetzung des eigenen Verstandes.
„Solange der Mensch seinen eigenen Verstand befragt, ist er die Zierde des Universums. Wenn der Mensch seine Vernunft aufgibt und Parteigänger des blinden Glaubens und passiven Gehorsams wird, ist er das schädlichste aller Lebenwesen. ... Er ist im Augenblick der Unterwerfung das blinde Werkzeug jeder schändlichen Absicht seines Vorgesetzten und wenn ersich selbst überlassen wird, ist er anfällig für die Verführung zu Ungerechtigkeit, Grausamkeit und Ruchlosigkeit. ... Derart gegängelte Personen sind streng genommen nicht einer einzigen Tugend fähig“ [Godwin 2004, S. 170 und S. 544]. Um die „Schäden“ der Gesellschaft wirklich zu beseitigen, muss daher Herrschaft in allen ihren Formen aufgehoben und durch ein absolut gesetztes individuelles Freiheitsprinzip ersetzt werden. Denn nur in völliger Freiheit kann der Mensch sich zu einem mündigen, daher sittlichen und glücklichen Wesen entwickeln. Deswegen lehnt Godwin jegliche Einschränkung, Reglementierung und Einordnung des Individuums in autoritär vorgegebene Regelungen kategorisch ab.
Insbesondere der Staat steht der menschlichen Selbstbestimmung antagonistisch gegenüber, da er selbst in seiner demokratischsten und liberalsten Form die Inkarnation des Herrschaftsprinzips und damit der eigentliche Garant der „gesellschaftlichen Übel“ ist. Deswegen kann es nicht darum gehen, die staatlichen Institutionen lediglich zu reformieren. Vielmehr gilt es, die Menschen endgültig vom Staat zu befreien. „Mit welcher Freude muss jeder wohlinformierte Menschenfreund auf die glückverheißende Zeit blicken, die Auflösung der politischen Regierung, jener primitiven Maschinerie, welche die einzig beständige Ursache der Schlechtigkeiten der Menschen gewesen ist und die ... Übel verschiedenster Art in ihrem Wesen vereinigt hat und sich nicht anders beseitigen lässt als durch ihre völlige Vernichtung!“ [Godwin 2004, S. 526/527].
Godwin unterscheidet ausdrücklich zwischen Staat und Gesellschaft: Der gesellschaftliche Zusammenschluss der Menschen zum Zwecke gegenseitiger Unterstützung ist natürlich und in jeder Form ein „Segen“. Im Gegensatz dazu steht der Staat, der historisch erst später durch die „Verirrungen“ und die „Schlechtigkeit“ von wenigen zustande gekommen ist. Er ist unnatürlich, behindert noch in der besten seiner Formen das freie Zusammenleben und dient immer nur dem egoistischen Interesse einiger weniger.
Jeder Eingriff des Staates in die Gesellschaft ist eine zutiefst antisoziale Tat. So lehnt Godwin auch grundsätzlich das vom Staat garantierte allgemeinverbindliche Recht und Gesetz ab. Zum einen ist der Anspruch absurd, die verschiedenen Handlungen der unterschiedlichen Individuen nach einem einheitlichen, festen Maßstab beurteilen zu wollen. Zum anderen hindert gesetzliches Recht die einzelnen daran, sich in jedem konkreten Fall ein selbständiges Urteil zu bilden. Auf diese Weise trägt es zur Aufrechterhaltung der intellektuellen und moralischen Unmündigkeit bei. Es verewigt also die eigentlichen Ursachen der Verbrechen, die es zu bekämpfen vorgibt. Dasselbe gilt für die Praxis des staatlichen Strafvollzugs. Sein einziger Zweck liegt darin, dem betroffenen Individuum „Qualen“ zuzufügen, wodurch aber dessen rationale und ethische Eigenschaften nicht etwa gebessert, sondern im Gegenteil vollends korrumpiert werden. Dies liegt in „... der allgemeinen Natur der Strafe, die den wahren Prinzipien des Geistes zuwider ist und innerhalb möglichst enger Grenzen beschränkt werden sollte, wenn nicht sofort abgeschafft“ [Godwin 2004, S. 581]. Die beste Resozialisierung eines inhaftierten „Verbrechers“ besteht offensichtlich in seiner Freilassung – „Es gibt keine andere Möglichkeit, ihn tugendhaft zu machen, als ihn unabhängig zu machen“ [Godwin 2004, S. 686].
Auch allen anti-individualistischen Ideologien sagt Godwin entschieden den Kampf an: Neben dem Patriotismus wird z.B. auch die Idee des gesellschaftlichen Allgemeinwohls, bzw. die Rousseausche Fiktion des „Gemeinwillens“ von der institutionalisierten Herrschaft als manipulatives Unterdrückungsmittel gegen das einzelne Individuum angewendet.
Ein weiteres Grundübel erblickt Godwin in der – auf ökonomischer Ausbeutung beruhenden – Eigentumsordnung. Die Akkumulation von Reichtum in den Händen weniger, der die materielle Not der großen Masse gegenübersteht, befestigt die Herrschaftsverhältnisse und ist die größte „Quelle des Verbrechens“.
Die von Godwin angestrebte Neuaufteilung des gesellschaftlichen Reichtums soll ökonomischer Ausbeutung dadurch den Boden entziehen, dass jedem Menschen das, dessen er bedarf, frei verfügbar ist. Die solcherart realisierte Gleichheit aller Individuen würde erst die ökonomische Grundlage ihrer freien Selbstentfaltung schaffen. Außerdem würde der Arbeitsaufwand für die Notwendigkeiten des Lebens beträchtlich sinken. Denn sobald die Menschen ihre wahren Interessen erkannt hätten, würden sie nicht mehr vom entfremdeten Bedürfnis nach „Gepränge“ und „Luxus“ getrieben; irrationale Eitelkeit und Ehrgeiz würden durch echte Werte ersetzt werden. In einem solchen „... Zustand gleichen Eigentums ...[hätten] alle ... Muße, um die gütigen und menschenfreundlichen Neigungen der Seele zu kultivieren und ihren Fähigkeiten auf der Suche nach intellektueller Vervollkommnung freien Lauf zu lassen ... und folglich würde die Menschenfreundlichkeit die Herrschaft wiedergewinnen, welche die Vernunft ihr zuweist“ [Godwin 2004, S. 745, S. 732 und S. 736].
Obwohl Godwin den unabhängigen Kleinproduzenten als Idealbild vor Augen hat, ist er doch kein Maschinenstürmer. Im Gegenteil will er alle Möglichkeiten einer rationell und mit wissenschaftlichen Hilfsmitteln ausgestatteten Produktion ausgeschöpft wissen. Maschinelle Mechanisierung könnte schon bald die Menschen von einer Unzahl langweiliger und entwürdigender Handarbeiten befreien. Eines aber lehnt Godwin an der Industrialisierung entschieden ab: den – vom industriellen Produktionsprozeß gesetzten – Zwang für das Individuum, bei der Bedienung von Maschinen mit anderen Menschen zusammenarbeiten zu müssen. Deswegen fordert er, möglichst rasch ins Zeitalter der Automation hinüberzugelangen, in dem der Einzelne Herr der Maschine und damit auch wieder seiner Zeiteinteilung wird.
Ein radikalisiertes Prinzip individueller Freiheit stellt auch die Grundlage dar für Godwins Entwurf einer staats- und herrschaftsfreien Gesellschaftsordnung. Diese beruht allein auf der Vernunft und „Menschenliebe“ der vollständig autonomen Individuen. In diesem „lichten Reich der Gerechtigkeit“ ist das friedfertige Miteinander der Einzelnen auf eine Vielzahl freiwilliger, gegenseitiger und kurzfristiger Vereinbarungen gegründet. Langfristige Bindungen verwirft Godwin als Einschränkung der individuellen Unabhängigkeit.
Wie die Ehe, so wird auch die patriarchale Familie abgeschafft werden, da sie auf zwischenmenschlicher Herrschaft und Eigentumsstreben gegründet ist. Bereits bei der Erziehung der Kinder ist der Freiheit in vollem Umfang Rechnung zu tragen; keinerlei autoritäres Recht der Eltern wird sich mehr gegen das rationale Interesse der Kinder geltend machen können.
Wie sehr Godwin der Vernunft den Primat über die menschlichen Gefühle und Leidenschaften zuspricht, wird auch deutlich in seinen Überlegungen zu Liebe und Sexualität: „Ich werde beharrlich den Umgang mit der Frau pflegen, deren Bildung mich am nachhaltigsten beeindruckt. ‚Aber es kann geschehen, dass andere Männer die gleiche Vorliebe für sie empfinden wie ich.‘ Das wird keine Schwierigkeit bereiten. Wir können alle ihre Unterhaltung genießen und wir werden weise genug sein, um den körperlichen Verkehr als ein sehr belangloses Objekt anzusehen“ [Godwin 2004, S. 772/773].
Ihre gemeinsamen öffentlichen Angelegenheiten werden von den Menschen unter Vermeidung jeder festen Institutionalisierung selber geregelt werden. Alle Handlungen und Entscheidungen sollen dabei auf Diskussion und rationaler Einsicht der jeweils Betroffenen beruhen. Daher muß die neue Gesellschaft dezentral aufgebaut sein. Ihre Basis ist die vom Einzelnen überschaubare kleine, autonome und selbstverwaltete Gemeinde, die sich bei Bedarf mit anderen Gemeinden gleicher Art föderiert. „So würde, was zuerst ein großes Reich mit einheitlicher Gesetzgebung war, schnell in einen Bund von kleineren Republiken umgeformt werden, mit einem allgemeinen Kongress ..., der dem Zweck eines gewissen Grades von Zusammenarbeit bei außergewöhnlichen Anlässen entspräche“ [Godwin 2004, S. 601]. Die in bestimmten Fällen notwendige Zusammenarbeit zwischen einzelnen Gemeinden bzw. auf höherer Ebene zwischen einzelnen Bezirken wird ebenso wenig durch allgemeinverbindliche Richtlinien festgeschrieben sein, wie die Kooperation der Individuen in ihrer jeweiligen Gemeinde: „... es wird zu diesem Zweck keines ausdrücklichen Vertrages und noch weniger eines gemeinsamen Zentrums der Autorität bedürfen. Allgemeine Gerechtigkeit und gegenseitiges Interesse erweisen sich als geeigneter, die Menschen zu binden, denn Unterschriften und Siegel“ [Godwin 2004, S. 515]. Die einzige Autorität von Menschen über Menschen gründet sich in dieser Gesellschaft auf die freiwillige Überzeugung mit dem Mittel der rationalen Argumentation, die Godwin scharf von der manipulierenden Überredung unterscheidet.
Auch in den von Godwin vorgeschlagenen Mitteln zur Erlangung der neuen Gesellschaft spiegelt sich seine konsequent individualistisch-rationalistische Grundhaltung wider. Er hat durchaus den kapitalistischen Antagonismus von „Arbeit und Kapital“ durchschaut, jedoch zieht er nicht die marxistische Konsequenz des Klassenkampfes. Ihm geht es nicht um Klassen, sondern um die geistige Emanzipation des Individuums. Denn aus seiner Perspektive sind „Arme“ und „Reiche“ gleichermaßen verstrickt in die durch Herrschaft erzeugte „Falschheit des Bewußtseins“.
Alle Herrschaft beruht letztlich auf dem Vertrauen der Beherrschten. Ihr Vertrauen aber ist die Folge von Unwissenheit. Beseitigt man diese auf dem Wege rationaler Aufklärungsprozesse, so wird unweigerlich die Grundlage der bestehenden →Herrschaftsverhältnisse untergraben. Aufgabe der Revolutionäre ist es also, kontinuierlich daran zu arbeiten, der Vernunft und Wahrheit größtmögliche Verbreitung zu verschaffen.
Den Erfolg derartiger Aufklärungsbemühungen sieht G. jederzeit als möglich an. Diese Möglichkeit in die Wirklichkeit umzusetzen, hängt allein von der Aktivität der „Aufklärer“ ab und nicht von irgendwelchen „objektiven“ gesellschaftlich-geschichtlichen Bedingungen.
Allerdings lehnt Godwin jede Form organisierter Propaganda ab. In der verbindlichen Disziplin, die in solchen Organisationen notwendig ist, erblickt er eine unerträgliche Einschränkung der freien Initiative ihrer Mitglieder. Stattdessen sollen die einzelnen „Aufklärer“ in völliger Unabhängigkeit und ausschließlich aus eigenem Antrieb heraus an der Verbreitung ihrer Ideen wirken.
Auch der Versuch, die Herrschenden auf dem Wege revolutionärer Gewaltanwendung zur Aufgabe ihrer Privilegien zu bewegen, ist grundverkehrt. Denn in gewaltsamen Auseinandersetzungen regierten „Leidenschaften“ und nicht die Vernunft; außerdem sei ihr Ausgang stets von zufälligen Kräfteverhältnissen abhängig. Darüber hinaus sind gewaltsame Aufstandsversuche auf die Dauer ganz und gar überflüssig. „Die Phalanx der Vernunft ist unverletzlich, sie schreitet mit wohl erwogenem und entschlossenem Schritt voran, und nichts kann ihr widerstehen“ [Godwin 2004, S. 195].
3. Stellenwert Godwins innerhalb des libertären Spektrums
Mit seinen extremen Schlußfolgerungen aus dem Individualismus und dem Rationalismus der Aufklärung hat Godwin nahezu alle wesentlichen Gesichtspunkte der anarchistischen Theoriebildung vorweggenommen.
Mit der Einsicht in die verderblichen Auswirkungen der Herrschaft auf die Menschen; dem konsequenten Insistieren auf den Bedürfnissen und Interessen des konkreten Individuums gegenüber allen Zwängen und abstrakten Ansprüchen, die an es herangetragen werden; seinem Gesellschaftsbegriff; der radikalen Absage an den Staat, seinen Institutionen und jeder Form der Regierung; der ausgesprochenen Tendenz zur gesellschaftlichen Dezentralisierung und zum föderalen Neuaufbau „von unten nach oben“; dem Vertrauen auf die Rationalität und Vervollkommungsfähigkeit des von jeglicher Autorität befreiten Einzelnen und der kleinen Gruppe, die aus freien Vereinbarungen entsteht und jede starre Institutionalisierung vermeidet; und nicht zuletzt mit der Konzeption, dass Emanzipation historisch jederzeit möglich war und ist und allein von den subjektiven Bestrebungen derjenigen abhängt, die sie wollen – mit all dem sprach Godwin Grundthesen anarchistischen Denkens aus.
Im Namen des „allgemeinen Glücks“ trieb Godwin seinen Begriff individueller Freiheit bis zur letzten Konsequenz (vgl. etwa seine prinzipielle Ablehung jeder langfristigen Kooperation der die neue Gesellschaft anstrebenden „Aufklärer“). Diese Radikalität erlaubt es – bei aller Problematik einer solchen Klassifizierung – ihn in die Schule des Individual-Anarchismus einzureihen. Godwins ökonomische Vorstellungen von freier Bedürfnisbefriedigung bringen ihn in die Nähe des Kommunistischen Anarchismus.
Sein Revolutionsbegriff schließlich läßt in ihm einen Vorläufer des Gewaltfreien Anarchismus erkennen.
Gleichwohl blieb Godwin ohne direkten Einfluss auf die anarchistische Bewegung des 19. Jahrhunderts. Lediglich radikale Vertreter der frühen englischen Arbeiterbewegung wie Robert Owen und Francis Place hatten Anleihen bei ihm gemacht. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geriet Godwins politische Theorie jedoch in nahezu vollständige Vergessenheit. Eine 1798 in Nordamerika erschienene Ausgabe der „Politischen Gerechtigkeit“ blieb ohne nennenswerte Resonanz, ebenso wie eine 1803 in Deutschland herausgegebene Übersetzung ihres ersten Bandes.
Peter Kropotkin war es, der Godwin als Vorläufer des Anarchismus wiederentdeckte. Vermutlich in den Jahren unmittelbar vor der Jahrhundertwende erkannte er den anarchistischen Charakter der Ideen Godwins und eröffnete diese einer Rezeption aus libertärer Sicht.
Der Autor ist insbesondere Wolfgang Faller für dessen konstruktive Kritik an der Rohfassung dieses Artikels zu Dank verpflichtet.
4. Literatur und Quellen
4.1. Godwins wichtigste Werke (Auswahl)
- An Enquiry concerning the Principles of Political Justice, and its Influence on General Virtue and Happiness. 2 vols, London 1793 (Weitere, vom Autor selbst revidierte Auflagen: Second Edition. 2 vols, London 1796; Third Edition. 2 vols, London 1798).
- Things as They are; or, the Adventures of Caleb Williams. 3 vols, London 1794.
- The Enquirer: Reflections on Education, Manners and Literature, London 1797.
- Memoirs of the Author of an Vindication of the Rights of Woman, London 1798.
- St. Leon: a Tale of the Sixteenth Century. 3 vols, London 1799.
- Of Population: an Enquiry concerning the power of Increase in the Numbers of Mankind; being an Answer to Mr Malthus’s Essay, London 1820.
4.2. Deutsche Übersetzungen
Erstmalig im Jahre 2004 ist eine vollständige Übersetzung von Godwins Hauptwerk über „Political Justice“ in deutscher Sprache erschienen:
- Godwin, William: Eine Untersuchung über politische Gerechtigkeit und ihren Einfluss auf Tugend und Glück aller. Aus dem Englischen übertragen von Jutta Schlösser. Herausgegeben und mit einem Anhang versehen von Herrmann Klenner. Haufe Schriftenreihe zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung. Band 17, Freiburg / Berlin 2004 [zitiert als: Godwin 2004].
Als Textvorlage dieser Übersetzung diente die erste Ausgabe der „Political Justice“ aus dem Jahre 1793. Eine editorische Entscheidung, die der Herausgeber werkimmanent begründet: „In der Erstauflage hat nämlich Godwin als Nichtanarchist begonnen und als Anarchist geendet! Er hat sich in seine Gerechtigkeitstheorie hineinargumentiert. Und genau das ist vermutlich die Ursache dafür, dass er damit die Leser mehr mitgerissen hat als mit dem – zugegeben – geglätteten Text der beiden späteren Auflagen“ [Klenner 2004, S. 819].
Zuvor waren von der„Political Justice“ in deutscher Sprache lediglich auszugsweise Übersetzungen erschienen. Die wichtigsten hiervon finden sich in den folgenden Büchern:
- Borries, Achim v. / Brandies, Ingeborg (Hrsg.): Anarchismus. Theorie, Kritik, Utopie. Texte und Kommentare, Frankfurt/M. 1970, S. 39 –59: William Godwin, Über die politische Gerechtigkeit [Teilübersetzung aus dem Nachdruck der dritten Auflage der „Political Justice“ (1798), Toronto 1946. Aus dem Englischen von Ingeborg Brandies].
- Eltzbacher, Paul: Der Anarchismus, Berlin 1900 (Nachdruck: Berlin 1977 und 1987), S. 35 – 56: Die Lehre Godwins [Teilübersetzung aus der ersten Auflage der „Political Justice“, London 1793. Aus dem Englischen von Paul Eltzbacher].
- Godwin, William: Das Eigentum. Aus dem Englischen übersetzt von Max Bahrfeldt. Mit einer Einleitung von Georg Adler. Hauptwerke des Sozialismus und der Sozialpolitik. Zweites Heft, Leipzig 1904 (Nachdruck: Glashütten im Taunus 1974) [Übersetzung von: Godwin‘s ‚political justice‘. A reprint of the essay on ‚property‘, from the original edition. Edited by H. S. Salt, London 1890].
- Godwin, William: Über die politische Gerechtigkeit. Anarchistische Texte 4. Dritte und überarbeitete Auflage, Berlin 1983 [Auszüge aus den o.g. Teilübersetzungen von Max Bahrfeldt, Ingeborg Brandies und Paul Eltzbacher; sowie eine auszugsweise Neuübersetzung von Jochen Schmück aus: William Godwin, Selections from Political Justice, ed. by George Woodcock, London 1943].
- [Godwin, William:] William Godwin’s Untersuchung über politische Gerechtigkeit und deren Einfluß auf Moral und Glückseligkeit. Aus dem Englischen übersetzt und mit Anmerkungen und Zusätzen herausgegeben von G. M. Weber, Frankfurt und Leipzig 1803 [Übersetzung lediglich des ersten Bandes der dritten Auflage der „Political Justice“, London 1798].
- Vester, Michael (Hrsg.): Die Frühsozialisten 1789 – 1848. Band 1. Texte des Sozialismus und Anarchismus, Reinbek bei Hamburg 1970, S. 10 – 25: William Godwin, Untersuchungen über politische Gerechtigkeit [Auszüge aus den o.g. Teilübersetzungen von Max Bahrfeldt und Paul Eltzbacher].
Die von Rudolf Rocker besorgte Übersetzung von „Things as They are; or, the Adventures of Caleb Williams“ erschien bisher in vier verschiedenen Ausgaben:
- William Godwin: Caleb Williams oder Die Dinge, wie sie sind. Ins Deutsche übertragen und mit einer Vorrede von Rudolf Rocker, Berlin 1931.
- William Godwin: Die Abenteuer des Caleb Williams. Das Buch zur vierteiligen Fernsehserie: „Tödliches Geheimnis“. Deutsche Übersetzung von Rudolf Rocker. Mit einem Nachwort von Claus Beling. Heyne-Buch Nr. 5767, München 1980.
- William Godwin: Caleb Williams oder Die Dinge, wie sie sind. Übersetzung von Rudolf Rocker. Mit einem Nachwort von Ingrid und Peter Kuczynski. Reclams Universal-Bibliothek. Band 1024, Leipzig 1985.
- William Godwin: Caleb Williams oder Die Dinge wie sie sind. Übersetzt und eine Vorrede von Rudolf Rocker. Mit einem Nachwort von Jürgen Mümken. Libertäre Bibliothek. Band 1, Lich/Hessen 2007.
Weitere Quellen
- Ammitzbøll, Niels Peter: Menschenbild und Erziehungskonzeption bei William Godwin. Zum sensualistischen und utilitaristischen Charakter seiner Pädagogik. Philosophische Texte und Studien. Band 28, Hildesheim / Zürich / New York 1991.
- Klenner, Herrmann: Anhang: Zur vorliegenden Ausgabe / Die gesellschaftliche Gerechtigkeit des William Godwin. Eine Provokation, in: Godwin 2004, S. 815 – 856 [zitiert als: Klenner 2004].
- Nettlau, Max: Geschichte der Anarchie. Band 1. Der Vorfrühling der Anarchie. Ihre historische Entwicklung von den Anfängen bis zum Jahre 1864. Herausgegeben von Heiner Becker, o.O. 1993 (Nachdruck der Ausgabe: Berlin 1925).
- Oberländer, Erwin: Der Anarchismus. Dokumente der Weltrevolution. Band 4, Olten und Freiburg im Breisgau 1972.
- Ramus, Pierre [d.i. Rudolf Großmann]: William Godwin, der Theoretiker des kommunistischen Anarchismus. Eine biographische Studie mit Auszügen aus seinen Schriften und eine Skizze über die sozial-politische Literatur des Anarcho-Sozialismus seiner Zeit, Leipzig 1907 (Nachdruck: Westbevern o.J.) [zitiert als: Ramus 1907].
- Rocker, Rudolf: Vorrede, in: William Godwin: Caleb Williams oder Die Dinge, wie sie sind. Ins Deutsche übertragen von Rudolf Rocker, Berlin 1931, S. III – XI [zitiert als: Rocker 1931].
- Woodcock, George: William Godwin. A biographical study. Montréal / New York 1989.
Autor: Markus Henning
Quelle: Dieser Artikel erschien erstmals in: Lexikon der Anarchie: Encyclopaedia of Anarchy. Lexique de l'anarchie. - Hrsg. von Hans Jürgen Degen. - Bösdorf: Verlag Schwarzer Nachtschatten, 1993-1996 (5 Lieferungen). - Loseblattsammlung in 2 Ringbuchordnern (alph. sortiert, jeder Beitrag mit separater Paginierung). Für die vorliegende Ausgabe wurde er überarbeitet.
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