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Tschechischer Anarchismus (1880-1925): Unterschied zwischen den Versionen

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(Geschichte und Ideenentwicklung)
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Es ist charakteristisch, dass sich der tschechische Anarchismus zunächst im Arbeitermilieu herausbildete und dann erst in Reihen der Intelligenz auf Interesse stieß. „Das eigentliche Proletariat war bei uns mehr denn anderswo erster und einziger Träger anarchistischer Ideen… Dagegen erfolgten eine theoretische Entwicklung des tschechischen Anarchismus und eine Rezeption durch die Intelligenz nur langsam" (S. K. Neumann, 1902).
 
Es ist charakteristisch, dass sich der tschechische Anarchismus zunächst im Arbeitermilieu herausbildete und dann erst in Reihen der Intelligenz auf Interesse stieß. „Das eigentliche Proletariat war bei uns mehr denn anderswo erster und einziger Träger anarchistischer Ideen… Dagegen erfolgten eine theoretische Entwicklung des tschechischen Anarchismus und eine Rezeption durch die Intelligenz nur langsam" (S. K. Neumann, 1902).
  
Aus den Auseinandersetzungen mit der sozialdemokratischen Gedankenwelt und der diesbezüglichen politischen Praxis kristallisierten sich Laufe der ersten Hälfte der 90er Jahre die Konturen und Inhalte eigener anarchistischer Orientierungen heraus. „Seither wurde aber die unabhängige sozialistische Bewegung zu einer wirklich anarchistischen. Dabei wirkten sich die Ideen [[Bakunins]], [[Kropotkins]], [[Reclus]]<nowiki>'</nowiki>, [[Mackays]], besonders Stirners, aber nicht getrennt voneinander an Einfluss, sondern wirkten zusammen … und deshalb sind wir, obgleich alle Anarchisten, doch nicht in allen Belangen einer Meinung. Einige sehen ihr Ziel im anarchistischen Kommunismus …, einige im Individualismus. Gemeinsames Prinzip für uns ist die Herrschaftslosigkeit" (A. P. Kalina in der Zeitschrift „Volný duch" <nowiki>[</nowiki>Der freie Geist<nowiki>]</nowiki>, 1896). Die Idee den Unabhängigkeit wird als Voraussetzung für die praktische Selbstbestimmung des Individuum verstanden.
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Aus den Auseinandersetzungen mit der sozialdemokratischen Gedankenwelt und der diesbezüglichen politischen Praxis kristallisierten sich Laufe der ersten Hälfte der 90er Jahre die Konturen und Inhalte eigener anarchistischer Orientierungen heraus. „Seither wurde aber die unabhängige sozialistische Bewegung zu einer wirklich anarchistischen. Dabei wirkten sich die Ideen [[Bakunin,_Michail_Aleksandrovič|Bakunins]], [[Kropotkins]], [[Reclus]]<nowiki>'</nowiki>, [[Mackays]], besonders Stirners, aber nicht getrennt voneinander an Einfluss, sondern wirkten zusammen … und deshalb sind wir, obgleich alle Anarchisten, doch nicht in allen Belangen einer Meinung. Einige sehen ihr Ziel im anarchistischen Kommunismus …, einige im Individualismus. Gemeinsames Prinzip für uns ist die Herrschaftslosigkeit" (A. P. Kalina in der Zeitschrift „Volný duch" <nowiki>[</nowiki>Der freie Geist<nowiki>]</nowiki>, 1896). Die Idee den Unabhängigkeit wird als Voraussetzung für die praktische Selbstbestimmung des Individuum verstanden.
  
 
Die Idee der Freiheit des Individuums wird auch zum Ausgangspunkt für die Lösung der sozialen Frage. Die Idee des Individualismus ist also jener zentrale Aspekt, aus dem sich das Emanzipationsbestreben des Anarchismus ableitet, der seinen ideologischen Fixpunkt bildet und auf dem seine Praxis basiert. Der Individualismus lässt sich dabei nicht auf die Frage der individuellen Einstellung gegenüber der Welt reduzieren, sondern reflektiert auch die grundlegenden Voraussetzungen für die Emanzipationsprinzipien der ganzen Gemeinschaft. In ihren sozialen Konsequenzen gerät die Idee des Individualismus nicht nur mit den traditionellen Formen der sozialen Organisation, sondern insbesondere auch mit den Vorstellungen von einem autoritären Sozialismus in Konflikt. „Der Individualismus hebt jene Formen auf, mit denen man, in welcher Richtung auch immer, herrschen kann" (A. P. Kalina in „Volný duch", 1895). D. h. nicht nur der Parlamentarismus selbst, aber auch andere Formen der Regierung über die Gesellschaft, die die Individualität überschreiten und nicht völlig respektieren, sind vom Individualismus her nicht akzeptierbar. Die Rezeption anarchistischer Theorien sowie die praktischen Erfahrungen der Bewegung der unabhängigen Sozialisten der ersten Hälfte der 90er Jahre fanden ihren Ausdruck im „Manifest der tschechischen Anarchisten" (1896). Mit dem Manifest gelangte der tschechische Anarchismus einerseits zu einer eigenen Identität und präsentierte sich andererseits als eigene, selbständige Alternative gegenüber den sonstigen Emanzipationskonzeptionen und -bestrebungen in der sozialistischen Bewegung, insbesondere gegenüber der Sozialdemokratie. Es stellte somit eine Basis dar, auf der sich oppositionelle Tendenzen der sozialistischen Bewegung und ein eher ideologisch motivierter Radikalismus zusammenschließen konnten, da auch eine praktische organisatorische Vermittlung zwischen dem Anspruch auf uneingeschränkte Selbstbestimmung und der Emanzipation des Proletariats gesucht wurde. Das vermittelnde Glied, das nicht nur der anarchistischen Vorstellung von einer Organisation nicht widersprach, sondern sich als praktische Perspektive anbot, waren Gewerkschaften. Aus der Grundidee des Manifestes – „Freiheit sehen wir nur dort, wo es keine Autoritäten gibt – in der Anarchie" – folgt, dass nicht ein staatlicher Kollektivismus oder Kommunismus angestrebt wird, sondern es vielmehr darauf ankommt, „auf die Entwicklung starker, unbeugsamer Charaktere, auf individuelle Selbständigkeit hinzuwirken, um so die Möglichkeit einer Abhängigkeit von Autoritäten zu schmälern, die die eigentliche Ursache für die geistige Schwäche der Unterdrückten ist" („Manifest"). Die Übergang zu einer anarchistischen Zukunft bedarf nicht nur einer individualistischen Negation des Privateigentums, sondern auch einer gewissen positiven Vorstellung von Anarchie: „Wir wirken darauf hin, dass die Naturgüter und Produktionsmittel jedem Menschen zur freien Verfügung stehen… Wir sind für eine freie Gruppierung nach freier Neigung zu freien Gemeinschaften…" Zu diesem Zweck bedarf es zuallererst einer „geistigen Revolution" und dann erst einer „materiellen Revolution"; ein Konzept, das zugleich eine Distanzierung von den Formen des individuellen Terrors der Propaganda der Tat bedeutet: „Die Revolution soll Ergebnis eines Bedürfnisses und nicht von nackter und bloßer Gewalt sein" („Manifest"). Die besondere Stellung des „Manifests" besteht darin, dass es einerseits für den bis dahin nicht immer klar orientierten unabhängigen Sozialismus eine eindeutige Hinwendung zum Anarchismus „als selbständiger Strömung mit eigenen Grundsätzen" bedeutete und somit diese Phase der Geschichte des unabhängigen Sozialismus abschloss; andererseits markierte das „Manifest" zugleich den ersten Schritt zur Überwindung eines eher eigenen individualistischen Anarchismusverständnisses. Damit war eine breite Basis nicht nur für eine weitergehende Rezeption der Ideen des europäischen Anarchismus, sondern auch für eine stärkere Reflexion gesellschaftlicher Probleme gegeben. Indem sich der tschechische Anarchismus mit diesem „Manifest" als eine eigenständige Strömung präsentierte, schuf er auch die Grundlagen für eine weitergehende Rezeption seiner Ideen.
 
Die Idee der Freiheit des Individuums wird auch zum Ausgangspunkt für die Lösung der sozialen Frage. Die Idee des Individualismus ist also jener zentrale Aspekt, aus dem sich das Emanzipationsbestreben des Anarchismus ableitet, der seinen ideologischen Fixpunkt bildet und auf dem seine Praxis basiert. Der Individualismus lässt sich dabei nicht auf die Frage der individuellen Einstellung gegenüber der Welt reduzieren, sondern reflektiert auch die grundlegenden Voraussetzungen für die Emanzipationsprinzipien der ganzen Gemeinschaft. In ihren sozialen Konsequenzen gerät die Idee des Individualismus nicht nur mit den traditionellen Formen der sozialen Organisation, sondern insbesondere auch mit den Vorstellungen von einem autoritären Sozialismus in Konflikt. „Der Individualismus hebt jene Formen auf, mit denen man, in welcher Richtung auch immer, herrschen kann" (A. P. Kalina in „Volný duch", 1895). D. h. nicht nur der Parlamentarismus selbst, aber auch andere Formen der Regierung über die Gesellschaft, die die Individualität überschreiten und nicht völlig respektieren, sind vom Individualismus her nicht akzeptierbar. Die Rezeption anarchistischer Theorien sowie die praktischen Erfahrungen der Bewegung der unabhängigen Sozialisten der ersten Hälfte der 90er Jahre fanden ihren Ausdruck im „Manifest der tschechischen Anarchisten" (1896). Mit dem Manifest gelangte der tschechische Anarchismus einerseits zu einer eigenen Identität und präsentierte sich andererseits als eigene, selbständige Alternative gegenüber den sonstigen Emanzipationskonzeptionen und -bestrebungen in der sozialistischen Bewegung, insbesondere gegenüber der Sozialdemokratie. Es stellte somit eine Basis dar, auf der sich oppositionelle Tendenzen der sozialistischen Bewegung und ein eher ideologisch motivierter Radikalismus zusammenschließen konnten, da auch eine praktische organisatorische Vermittlung zwischen dem Anspruch auf uneingeschränkte Selbstbestimmung und der Emanzipation des Proletariats gesucht wurde. Das vermittelnde Glied, das nicht nur der anarchistischen Vorstellung von einer Organisation nicht widersprach, sondern sich als praktische Perspektive anbot, waren Gewerkschaften. Aus der Grundidee des Manifestes – „Freiheit sehen wir nur dort, wo es keine Autoritäten gibt – in der Anarchie" – folgt, dass nicht ein staatlicher Kollektivismus oder Kommunismus angestrebt wird, sondern es vielmehr darauf ankommt, „auf die Entwicklung starker, unbeugsamer Charaktere, auf individuelle Selbständigkeit hinzuwirken, um so die Möglichkeit einer Abhängigkeit von Autoritäten zu schmälern, die die eigentliche Ursache für die geistige Schwäche der Unterdrückten ist" („Manifest"). Die Übergang zu einer anarchistischen Zukunft bedarf nicht nur einer individualistischen Negation des Privateigentums, sondern auch einer gewissen positiven Vorstellung von Anarchie: „Wir wirken darauf hin, dass die Naturgüter und Produktionsmittel jedem Menschen zur freien Verfügung stehen… Wir sind für eine freie Gruppierung nach freier Neigung zu freien Gemeinschaften…" Zu diesem Zweck bedarf es zuallererst einer „geistigen Revolution" und dann erst einer „materiellen Revolution"; ein Konzept, das zugleich eine Distanzierung von den Formen des individuellen Terrors der Propaganda der Tat bedeutet: „Die Revolution soll Ergebnis eines Bedürfnisses und nicht von nackter und bloßer Gewalt sein" („Manifest"). Die besondere Stellung des „Manifests" besteht darin, dass es einerseits für den bis dahin nicht immer klar orientierten unabhängigen Sozialismus eine eindeutige Hinwendung zum Anarchismus „als selbständiger Strömung mit eigenen Grundsätzen" bedeutete und somit diese Phase der Geschichte des unabhängigen Sozialismus abschloss; andererseits markierte das „Manifest" zugleich den ersten Schritt zur Überwindung eines eher eigenen individualistischen Anarchismusverständnisses. Damit war eine breite Basis nicht nur für eine weitergehende Rezeption der Ideen des europäischen Anarchismus, sondern auch für eine stärkere Reflexion gesellschaftlicher Probleme gegeben. Indem sich der tschechische Anarchismus mit diesem „Manifest" als eine eigenständige Strömung präsentierte, schuf er auch die Grundlagen für eine weitergehende Rezeption seiner Ideen.

Version vom 25. Februar 2019, 20:56 Uhr

Lexikon der Anarchie: Sachthemen


Die tschechische Zeitschrift Anarchistická Revue, hrsg. von Stanislav K. Neumann, Řečkovice u Brna 1905

Begriff und Inhalt

Der Begriff tschechischer Anarchismus stellt eine nationale geographische Deutung für die anarchistische und anarchosyndikalistische Bewegung und ihre sozialpolitische und ideologische Entwicklung in den böhmischen Ländern von den achtziger und neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts bis zu den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts dar. Praktisch wie gedanklich bildete er sich unter der radikalisierten Arbeiterschaft insbesondere im nördlichen und nordöstlichen Böhmen und unter der jungen literarischen und künstlerischen Intelligenz und unter den Arbeitern in Prag, weniger ausgeprägt in den übrigen Gebieten der böhmischen Länder, aus. In den Anfängen seines zum Durchbruch gelangenden Einflusses (80er und 90er Jahre des 19. Jahrhunderts) hatte der Anarchismus seine Träger auch unter der starken tschechischen Minderheit in Wien. Zur Geschichte des tschechischen Anarchismus gehört am Beginn auch seine Entwicklung auf dem Unweg über die junge tschechische Emigration besonders in den USA, die die Bewegung in den böhmischen Ländern beeinflussen konnte. Eigentlicher Inhalt des tschechischen Anarchismus bleibt die historische Entwicklung der Bewegung und ihre ideologische Geschichte in den böhmischen Ländern der Österreichisch-ungarischen Monarchie und nach deren Zerfall (1918) in den ersten Jahren der entstandenen Tschechoslowakei.

Geschichte und Ideenentwicklung

Die ersten Anzeichen anarchistischer Tendenzen und zunehmend auch eines anarchistischen Einflusses in den böhmischen Ländern lassen sich in den 80er Jahren feststellen. Gerade in dieser Anfangsperiode der anarchistischen Einflussnahme ist es charakteristisch, dass sie sich zunächst als Reaktion auf die Probleme der sich organisierenden sozialdemokratischen Arbeiterbewegung bemerkbar machte, ohne eine in sich geschlossene anarchistische Ideologie zu bilden. In der sozialistischen Bewegung entwickelte sich in den 80er Jahren eine ideologische Polarisierung, die zur faktischen Spaltung in so genannte „Gemäßigte" und „Radikale" führte. Auf der Seite der „Radikalen" bildeten sich schließlich auch anarchistische Standpunkte heraus, zunächst in Form einer Negierung der Autorität des Staates und der Zielvorstellung einer freien Gesellschaft sowie einer dieser entsprechenden Kampfform revolutionärer Minderheiten und Individuen. Der elementare Radikalismus insbesondere der nordböhmischen Bergarbeiter bot einen fruchtbaren Nährboden für radikale Aktivitäten im Sinne der damaligen Anarchisten. Die anarchistischen Grundsätze sollten nicht nur mit Worten, sondern insbesondere durch eine Propaganda der Tat wirksam verbreitet werden, wie in der radikalen und schließlich eindeutig anarchistischen, aus dem Ausland illegal kolportierten Presse betont wurde. Die anarchistischen Ideen Johann Mosts fanden gerade in damaligem Österreich beifällige Aufnahme, sowie die Propaganda der aus dem Ausland eingeführten Zeitungen und Zeitschriften (London: „Die Freiheit", „Die Zukunft", „Der Rebell", Budapest: „Communist", „Radikal"; Chicago: „Budoucnost" [Die Zukunft]; New York: „Proletář" [Der Proletarier]). Außerdem entstanden illegale Drucke und Flugblätter. Der antiautoritär orientierte individuelle Terror stellte damals gewissermaßen ein Kriterium für das anarchistische Selbstverständnis dar, allerdings im Kontext seiner übrigen sozialpolitischen Ideen.

Dieser antietatistische Radikalismus bewegte sich jenseits der zeitweiligen Spaltung der sozialdemokratischen Bewegung in die „Gemäßigte" und „Radikale", um so zu eigene Identität zu finden. Der daraus resultierende Individualismus als Prinzip jeglicher emanzipatorischer Bemühungen beruhte auf der Zielvorstellung einer freien Gesellschaft freier Individuen. In dieser Sichtweise wurde jedwede Organisierung politischer Parteien mit ihren hierarchischen Strukturen, ihrer Disziplin, ihrem Prinzip der Mehrheitsentscheidung und der daraus folgenden Unterdrückung der Minderheit abgelehnt; angestrebt wurde stattdessen eine föderalistische Zusammenarbeit autonomer Gruppen, wobei die Freiheit des Einzelnen gewahrt bleiben sollte. In den 80er Jahre löste sich der Anarchismus mit seinen Grundprinzipien endgültig von der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung und etablierte sich als Alternative zum Konzept einer politischen Partei. In seinen durch die Umstände bedingten bescheidenen Ausmaßen präsentierte sich der tschechische Anarchismus als Versuch einer radikalen Emanzipation im Sinne einer unmittelbaren Ausrichtung auf die angestrebten Ziele: Im Mittelpunkt der anarchistischen Orientierung stand die Betonung der radikalen Aktion, die auf die Negation jedweder Autorität zielte.

In den 90er Jahren fand der Anarchismus in den böhmischen Ländern in zwei sozialen Milieus – dem der sich radikalisierenden sozialistischen Arbeiterbewegung und dem einer radikalisierten Intelligenz – beifällige Aufnahme und entwickelte sich dementsprechend in zwei Linien, die zugleich komplementäre Formen einer ideologischen Richtung darstellten. Der sich entfaltende tschechische Anarchismus fand seinen Ausdruck im sog. unabhängigen Sozialismus, der nicht nur die ideologische und organisatorische Unabhängigkeit vor der Sozialdemokratie mit sich brachte, sondern auch allzu provozierende anarchistische Tendenzen in gewisser Weise verdeckte. Auf der einen Seite stellte der unabhängige Sozialismus die aktivistisch orientierte Alternative einer vor allem auf den wirtschaftlichen Sektor zielenden anarchistischen Bewegung dar und war insofern ideologischer Rahmen der radikalen Alltagskämpfe. Auf der anderen Seite repräsentierte er einen politisch, sozial und kulturell motivierten Radikalismus mit bewusst anarchistischer Ausrichtung, insbesondere von Angehörigen der Intelligenz, der Studenten und der Arbeiterjugend. Er präsentierte sich als Ideologie eines radikalen Individualismus mit einer intellektuell begründeten Sehnsucht nach individueller Freiheit und der damit einhergehenden Revolte gegen der autoritären staatlichen Zentralismus. Dabei konzentrierte sich dieser Anarchismus auf Fragen der individuellen kreativen Freiheit, der Literatur und Kunst, der Ethik und Moral. In beiden Fällen ging es weniger um die Konzeption einer eigenständigen, in sich geschlossenen anarchistischen Ideologie; vielmehr gelangten unterschiedliche anarchistische Standpunkt zum Vorschein, basierend auf den nach und nach rezipierten Ideen bekannter anarchistischer Autoren sowie der Erfahrungen der europäischen anarchistischen Bewegung, die in den betreffenden sozialen Milieus und Regionen jeweils unterschiedlichen Anklang fanden. Insbesondere unter den nordbömischen Arbeiten stieß der aktivistische Radikalismus als Mittel zur Durchsetzung eigener Zielvorstellungen auf eine hohe Akzeptanz. Dies hatte eine Orientierung auf den direkten ökonomischen Kampf, auf wirtschaftlichen Terror, auf Streiks und Sabotage, auf eigene Gewerkschaftsorganisationen und auf den Kampf gegen Klerikalismus und Religion zur Folge. Auf der anderen Seite rezipierte man den Anarchismus insbesondere als Möglichkeit der individuellen Befreiung von materiellen und geistigen Autoritäten, als Wegweiser für ein individuell zu gestaltendes Leben und einen individuellen weltanschaulichen Standpunkt. In dieser Form gewann der Anarchismus vor allen in der jüngeren Generation an Einfluss. Einerseits in Kreisen der Arbeiterjugendbewegung um die Zeitschrift „Omladina" („Jugend", 1891 – 1893), die ursprünglich noch am Programm der Sozialdemokratie orientiert war und sich zu anarchistischen Standpunkten weiterentwickelte; andererseits in der so genannten fortschrittlichen Studentenbewegung, die sowohl den Einflüssen des deutschen Individualismus als auch des französischen Anarchismus offen stand. In diesem Milieu fanden auch die Ideen des – individualistischen Anarchismus in der Tradition Max Stirners einen geeigneten Nährboden. Eine besondere Bedeutung für die junge Generation der 90er Jahre gewann Friedrich Nietzsche, dessen Ideen durch ihren Individualismus, ihren Subjektivismus und Voluntarismus zum Symbol der Revolte wurden. F. Nietzsche wirkte durch seine Ausfälle gegen den Staat und seinen Atheismus anziehend, er symbolisierte den Geist der Negation und der Zerstörung bisher geltender Werte. Sein Individualismus brachte für diese Generation das Streben nach Freiheit gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft zum Ausdruck. „Der Individualismus meldete sich zu Wort, die Ansichten Nietzsches und der ästhetische Anarchismus gewannen an Einfluss und es kam zu einer Harmonisierung aristokratischer und demokratischer Neigungen" (S. K. Neumann, Vzpomínky [Erinnerungen], 1948, S. 67). Der Einfluss des Individualismus auf den tschechischen Anarchismus wurde weitgehend über die entsprechende deutsche Literatur vermittelt. „Bahnbrechend für uns war zuerst nur die zugängliche deutsche Literatur" (Zeitschrift „Komuna" [Kommune], 1907). Auch die Opposition der ursprünglich „gemäßigten" Sozialdemokraten wandte sich der anarchistischen Bewegung zu; sie wurde von Vilém Körber, einem wichtigen Repräsentanten und Führer des unabhängigen Sozialismus der 90er Jahre verkörpert. Diese Opposition bekannte sich seit 1892 mit ihrer Zeitschrift „Nový věk svobody" („Neues Zeitalter der Freiheit") zum Anarchismus. V. Körber verstand den Anarchismus als undoktrinären Individualismus, als programmatische Lebenshaltung, als Streben nach völliger persönlicher Freiheit, verbunden mit der Forderung nach einem gleichen Maß an Freiheit auch für den Mitmenschen. Er betonte „das individualistische Moment des Anarchismus, das den Anarchisten lehrt, in seinem Ich den Mittel- und Hauptpunkt seines Lebens zu sehen, was ihn über Moral, Religion und Altruismus emporhebt" („Komuna", 1907). Diesen praktischen Individualismus stellte V. Körber in seiner Broschüre „Ethický anarchismus" („Der ethische Anarchismus", 1895) vor.

Es ist charakteristisch, dass sich der tschechische Anarchismus zunächst im Arbeitermilieu herausbildete und dann erst in Reihen der Intelligenz auf Interesse stieß. „Das eigentliche Proletariat war bei uns mehr denn anderswo erster und einziger Träger anarchistischer Ideen… Dagegen erfolgten eine theoretische Entwicklung des tschechischen Anarchismus und eine Rezeption durch die Intelligenz nur langsam" (S. K. Neumann, 1902).

Aus den Auseinandersetzungen mit der sozialdemokratischen Gedankenwelt und der diesbezüglichen politischen Praxis kristallisierten sich Laufe der ersten Hälfte der 90er Jahre die Konturen und Inhalte eigener anarchistischer Orientierungen heraus. „Seither wurde aber die unabhängige sozialistische Bewegung zu einer wirklich anarchistischen. Dabei wirkten sich die Ideen Bakunins, Kropotkins, Reclus', Mackays, besonders Stirners, aber nicht getrennt voneinander an Einfluss, sondern wirkten zusammen … und deshalb sind wir, obgleich alle Anarchisten, doch nicht in allen Belangen einer Meinung. Einige sehen ihr Ziel im anarchistischen Kommunismus …, einige im Individualismus. Gemeinsames Prinzip für uns ist die Herrschaftslosigkeit" (A. P. Kalina in der Zeitschrift „Volný duch" [Der freie Geist], 1896). Die Idee den Unabhängigkeit wird als Voraussetzung für die praktische Selbstbestimmung des Individuum verstanden.

Die Idee der Freiheit des Individuums wird auch zum Ausgangspunkt für die Lösung der sozialen Frage. Die Idee des Individualismus ist also jener zentrale Aspekt, aus dem sich das Emanzipationsbestreben des Anarchismus ableitet, der seinen ideologischen Fixpunkt bildet und auf dem seine Praxis basiert. Der Individualismus lässt sich dabei nicht auf die Frage der individuellen Einstellung gegenüber der Welt reduzieren, sondern reflektiert auch die grundlegenden Voraussetzungen für die Emanzipationsprinzipien der ganzen Gemeinschaft. In ihren sozialen Konsequenzen gerät die Idee des Individualismus nicht nur mit den traditionellen Formen der sozialen Organisation, sondern insbesondere auch mit den Vorstellungen von einem autoritären Sozialismus in Konflikt. „Der Individualismus hebt jene Formen auf, mit denen man, in welcher Richtung auch immer, herrschen kann" (A. P. Kalina in „Volný duch", 1895). D. h. nicht nur der Parlamentarismus selbst, aber auch andere Formen der Regierung über die Gesellschaft, die die Individualität überschreiten und nicht völlig respektieren, sind vom Individualismus her nicht akzeptierbar. Die Rezeption anarchistischer Theorien sowie die praktischen Erfahrungen der Bewegung der unabhängigen Sozialisten der ersten Hälfte der 90er Jahre fanden ihren Ausdruck im „Manifest der tschechischen Anarchisten" (1896). Mit dem Manifest gelangte der tschechische Anarchismus einerseits zu einer eigenen Identität und präsentierte sich andererseits als eigene, selbständige Alternative gegenüber den sonstigen Emanzipationskonzeptionen und -bestrebungen in der sozialistischen Bewegung, insbesondere gegenüber der Sozialdemokratie. Es stellte somit eine Basis dar, auf der sich oppositionelle Tendenzen der sozialistischen Bewegung und ein eher ideologisch motivierter Radikalismus zusammenschließen konnten, da auch eine praktische organisatorische Vermittlung zwischen dem Anspruch auf uneingeschränkte Selbstbestimmung und der Emanzipation des Proletariats gesucht wurde. Das vermittelnde Glied, das nicht nur der anarchistischen Vorstellung von einer Organisation nicht widersprach, sondern sich als praktische Perspektive anbot, waren Gewerkschaften. Aus der Grundidee des Manifestes – „Freiheit sehen wir nur dort, wo es keine Autoritäten gibt – in der Anarchie" – folgt, dass nicht ein staatlicher Kollektivismus oder Kommunismus angestrebt wird, sondern es vielmehr darauf ankommt, „auf die Entwicklung starker, unbeugsamer Charaktere, auf individuelle Selbständigkeit hinzuwirken, um so die Möglichkeit einer Abhängigkeit von Autoritäten zu schmälern, die die eigentliche Ursache für die geistige Schwäche der Unterdrückten ist" („Manifest"). Die Übergang zu einer anarchistischen Zukunft bedarf nicht nur einer individualistischen Negation des Privateigentums, sondern auch einer gewissen positiven Vorstellung von Anarchie: „Wir wirken darauf hin, dass die Naturgüter und Produktionsmittel jedem Menschen zur freien Verfügung stehen… Wir sind für eine freie Gruppierung nach freier Neigung zu freien Gemeinschaften…" Zu diesem Zweck bedarf es zuallererst einer „geistigen Revolution" und dann erst einer „materiellen Revolution"; ein Konzept, das zugleich eine Distanzierung von den Formen des individuellen Terrors der Propaganda der Tat bedeutet: „Die Revolution soll Ergebnis eines Bedürfnisses und nicht von nackter und bloßer Gewalt sein" („Manifest"). Die besondere Stellung des „Manifests" besteht darin, dass es einerseits für den bis dahin nicht immer klar orientierten unabhängigen Sozialismus eine eindeutige Hinwendung zum Anarchismus „als selbständiger Strömung mit eigenen Grundsätzen" bedeutete und somit diese Phase der Geschichte des unabhängigen Sozialismus abschloss; andererseits markierte das „Manifest" zugleich den ersten Schritt zur Überwindung eines eher eigenen individualistischen Anarchismusverständnisses. Damit war eine breite Basis nicht nur für eine weitergehende Rezeption der Ideen des europäischen Anarchismus, sondern auch für eine stärkere Reflexion gesellschaftlicher Probleme gegeben. Indem sich der tschechische Anarchismus mit diesem „Manifest" als eine eigenständige Strömung präsentierte, schuf er auch die Grundlagen für eine weitergehende Rezeption seiner Ideen.

Stanislav Kostka Neumann (1875-1947)

Eine wichtige Rolle bei der Vermittlung neuer Ideen spielten seit dem Jahre 1894 die Zeitschrift „Moderní revue" („Moderne Revue") und seit dem Jahre 1897 S. K. Neumanns Periodikum „Nový kult" („Der neue Kult"), durch deren Beiträge die Bewegung die Autoren der europäischen Anarchismus kennen lernte (Max Stirner, Michal Bakunin, Peter Kropotkin, Jean Grave, Elisée Reclus, Christian Cornelissen, Ferdinand Domela Nieuwenhuis, Voltairine de Cleyre, Varlaam Čerkesov, Viktor Dave, Paul Eltzbacher, Errico Malatesta, Charles Malato, Siegfried Nacht, Zo d'Axa, Georges Yvetot, Sébastien Faure u.a.). Der intellektuelle Individualismus proklamierte die Emanzipation des Individuums und projizierte diese auf die allgemeine gesellschaftliche Ebene einer zukünftigen freien Gesellschaft. Die anarchistische Ideologie in diesem Sinne zielte auf eine weltanschauliche Orientierung mit sozialpolitischen Absichten.

Seit der zweiten Hälfte der 90er Jahre bildeten sich im tschechischen Anarchismus einander ergänzende Strömungen heraus, eine, die eher praxisorientiert war und eine zweite, die sich mehr theoretischen Überlegungen, propagandistischen Zwecken und der Bildung der Anhänger widmete. Bei jenen, die sich stärker auf das Arbeitermilieu konzentrierten, standen soziale und organisatorische Aspekte im Vordergrund. Demgegenüber stand eine Strömung, die stärker die weltanschauliche Einstellung des Individuums, seine Revolte gegen die Beengtheit der gesellschaftlichen Verhältnisse und deren geistige Atmosphäre betonte. Es war dies eine dem intellektuellen und literarisch-künstlerischen Milieu nahe stehende und aus diesem hervorgegangene Strömung. Der Ausgangspunkt dieser Haltung lag im Radikalismus kreativer Individuen, die sich erst in zweiter Linie mit den aus ihrer Sicht abstrakten gesellschaftlichen Problemen befassten. Beide Richtungen konnten ihre Eigenarten in den späteren, sich eher ergänzenden Organisationsformen der Bewegung wahren. Sie wirkten zur gleichen Zeit, setzen unterschiedliche Akzente, formulierten verschiedene Standpunkte mit manchmal störenden, manchmal sich ergänzenden Eigenheiten, begegneten aber einander auf der einen Basis des tschechischen Anarchismus. Und je nach den Umständen lösten sie Bestrebungen zur Separierung oder zum Annäherung aus. „Mann soll in Zukunft nicht mehr die Attribute Individualismus oder Kommunismus verwenden, es sollen die Ideen und Prinzipien des Anarchismus formuliert werden, der einfach als solcher existent ist. Beide Richtungen – der philosophische Individualismus und der freie Kommunismus – gehören grundsätzlich zueinander und es darf daher weder die eine, noch die andere unterdrückt oder als ketzerisch verdammt werden" (Zeitschrift „Matice dělnická" [Der Arbeiterverein], 1898). Die ursprünglich starke Betonung des programmatischen Individualismus wurde durch kollektivistische, kommunistische oder syndikalistische Orientierungen überwunden, wobei dies nicht eine Liquidierung der einen Strömung durch die andere, sondern eine Bereicherung des Spektrums der unterschiedlichen Standpunkte bedeutete. Beide Strömungen fanden eigene organisatorische Formen. Die im Jahr 1904 gegründete „Česká anarchistická federace" („Tschechische Anarchistische Föderation") suchte als „freie Vereinigung von Mitarbeitern in der tschechischen anarchistischen Bewegung" die Idee des Anarchismus durch Agitation unter der Arbeiterschaft und der Intelligenz zu verbreiten („Das Programm der Tschechischen Anarchistischen Föderation", 1904). Die im gleichen Jahr gegründete und anarcho-syndikalistisch orientierte „Česká federace všech odborů" („Tschechische Föderation aller Gewerkschaften") – sie knüpfte an die erste breitere nordböhmische und nordostböhmische „Severočeská federace horníků" („Nordböhmische Föderation der Bergarbeiter", 1903) an – neigte in Laufe der Zeit dazu, ihre Basis im Bereich politisch neutraler Gewerkschaftsarbeit auszuweiten. Dabei schlossen beide Organisationsformen einander nicht aus, vielmehr brachte jede einen jeweils spezifischen Aspekt der anarchistischen Ideen zum Ausdruck. Die Annäherung der beiden Strömungen des tschechischen Anarchismus fand ihren Ausdruck in der weitgehenden Übereinstimmung zu den praktischen Fragen der Bewegung, zu deren wichtigsten Grundsätzen die Taktik der Direkten Aktion gehörte. Dem entsprechen auch die Bemühungen, die soziale Basis der anarchistischen Bewegung auf die Gewerkschaftsbewegung auszudehnen; sie sollte über den bisherigen beschränkten Rahmen anarchistischer Gruppen hinausreichen. Die Idee des Anarchosyndikalismus stieß somit auch im tschechischen Anarchismus auf Resonanz. Die tschechischen Anarchisten waren sich aber durchhaus in klaren darüber, dass sie als Träger einer bestimmten Idee einer zukünftigen Gesellschaft allenfalls als revolutionäre Minderheit initiativ werden konnten und insofern auch nicht in neutralen Gewerkschaften oder der anonymen Kollektivität einer Klasse aufgehen konnten. Hier wiederholt sich in gewisser Weise jenes Dilemma, das sich bereits im Verhältnis der beiden wesentlichen Strömungen des tschechischen Anarchismus zueinander gezeigt hatte: was dort als Widerspruch zwischen einer eher aktivistischen Tendenz und einer auf die Reinheit der Ideen Wert legenden Richtung aufgetaucht war, reproduziert sich später im Verhältnis der minoritären anarchistischen Gruppierungen zu der Kämpfen der Arbeiterklasse in ihrer ganzen Komplexität.

Zu Beginn des Jahres 1914 trafen beide Strömungen in neuer Form aufeinander. Für den „Kongress tschechischer Anarchisten" (April 1914) wurden zwei Diskussionspapiere vorgelegt, in denen die Autoren Bohuslav Vrbenský und Michael Kácha, ihre unterschiedlichen Positionen zum Ausdruck brachten. Beide Papiere waren den einzelnen Gruppen der „Tschechischen Anarchistischen Föderation" zur Diskussion zuvor zugeleitet worden. Von B. Vrbenský wurde der Vorschlag unterbreitet, sich künftig als „sonderliche" Partei in „Strana českých anarchistů-komunistů" („Partei der tschechischen Anarchisten-Kommunisten") umzuformen. Als wesentliche Kritik zum Vrbenskýs Vorschlag wurde von Kácha dagegen gehalten, eine Partei sei „eine nichtanarchistische Organisationsform" neben anderen kritischen Stellungen zum Vrbenskýs Projekt. In beiden Konzeptionen wurden nicht nur ideologische Probleme miteinander konfrontiert, sondern es handelte sich zugleich um den Versuch, Einfluss und Relevanz des tschechischen Anarchismus im breiteren Kontext des politischen und gesellschaftlichen Lebens zu reflektieren. Die Diskussion war ohne Zweifel ein Ausdruck der Unzufriedenheit mit dem begrenzen Einfluss der tschechischen Anarchisten. Der Kongress nahm den Entwurf B. Vrbenskýs an. Die anarchosyndikalistisch orientierten nordböhmischen Arbeiter der ehemaligen „Tschechischen Föderation aller Gewerkschaften" (ČFVO) (später organisiert teilweise außer ČFVO als „Hornická federace" [„Bergarbeiterföderation"], 1907; „Zemská jednota horníků" [„Landesverband der Bergarbeiter"], 1909; „Odborové sdružení dělníků – Ochrana" [„Gewerkschaftsvereinigung der Arbeiter – Schutz"], 1910) huldigten immer nachhaltiger einem syndikalistischen ökonomischen Reformismus, während der stärker ideologisch ausgerichtete Revolutionismus der „Tschechischen Anarchistischen Föderation" die Organisationsform einer politischen Partei anstrebte.

Die revolutionären Ereignisse in Europa und die Machtübernahme der Bolschewiki in Russland sollten schließlich dazu führen, dass ein zentraler Aspekt jeglicher anarchistischer Überzeugung, die Ablehnung des Staates, in Frage gestellt wurde. Tatsächlich führte der Weg der Mehrheit der tschechischen Anarchisten von den früheren Kompromissen in den eigenen Reihen bis zur Identifikation mit dem leninistischen Sozialismus und damit der Übernahme eines Verständnisses von sozialer Emanzipation, dem ein Denken in Begriffen der Macht und staatlichen Autorität nicht mehr fremd war.

Nach den Erwägungen über die Möglichkeiten der Gründung einer einheitlichen reformistischen sozialistischen Partei (zusammen mit den Sozialdemokraten, Januar 1918), die keinen entsprechenden Widerhall fanden, verlegten sich die Anarchokommunisten in der „Föderation der tschechischen Anarchokommunisten " auf die National-soziale Partei, mit der sie gemeinsam eine neue Partei: die „Tschechische Sozialistische Partei" (Česká strana socialistická, 1918) gründeten, die das Programm für die künftige sozialistische Gesellschaft mit einer Ablehnung des sog. Staats-Sozialismus und der Verwaltung der Produktionsmittel durch Gewerkschaften der Produzenten formulierte. (Mit der Entstehung der Tschechoslowakischen Republik [Oktober 1918] übernahmen einige Anarchokommunisten auch Funktionen in der staatlichen Administration und im Parlament.) Sie bildeten einen relativ selbständigen linken Flügel in der sozialistischen Partei. Sie meinten, die anarchistischen Prinzipien würden sich in der ganzen Partei durchsetzen, revidierten jedoch diese zugleich. Der anarchistische Parteitag (Februar 1919) billigte nachträglich die Eingliederung in die sozialistische Partei und demnach die organisatorische Liquidierung der eigenen Bewegung. Die linken Anarchokommunisten um S. K. Neumann, dessen Zeitschrift „Červen" und deren Anhänger eines traditionellen Anarchismus' orientierten sich immer mehr hin zum russischen Kommunismus und zur III. Internationale und revidierten ihre Betätigung in der „Tschechoslowakischen sozialistischen Partei". Sie gründeten der „Verband kommunistischer Gruppen" (1920), der eindeutig auf die Ideen und die Taktik der Kommunistischen (III.) Internationale ausgerichtet war. Der größere Teil der Anarchokommunisten um B. Vrbenský bildete auch weiterhin ein relativ selbständiges Kernstück des linken Flügels in der sozialistischen Partei. Die fortschreitende politische Differenzierung innerhalb der Partei verstärkte die Zwistigkeiten zwischen den Anarchokommunisten und der immer ausgeprägteren rechtsgerichteten Mehrheit der sozialistischen Partei, die dann zum Ausschluss der leitenden Repräsentanten der linken Opposition aus der Partei führten. Das Angebot der (im Januar 1923 mit Zdeněk Lahulek-Faltys gegründeten) „Volné sdružení anarchistů" (Freien Vereinigung der Anarchisten) zum Zusammenschluss beider Gruppierungen wurde von B. Vrbenský abgelehnt, denn das ideologische Abrücken seines Flügels vom Anarchismus war bereits beträchtlich. Der anarchistische Flügel löste sich schließlich als selbständige „Unabhängige sozialistische Partei" 1923 los, deren Vorsitzender B. Vrbenský wurde. Die weitere politische Polarisierung brachte immer deutlicher auch die „Unabhängige sozialistische Partei" in die Nähe des „revolutionären Marxismus". Nach dem erfolglosen Versuch der Konstituierung der Partei „Socialistické sjednocení" (Sozialistischen Vereinigung) (gemeinsam mit der Unabhängigen sozialdemokratischen Partei) präsentiere sie sich nunmehr als „Nezávislá socialistická strana dělnická" (Unabhängige sozialistische Arbeiterpartei [Juni 1924]). Der zweite Parteitag der „Unabhängigen sozialistischen Arbeiterpartei" (September 1925) beschloss den Eintritt der Partei in die III. Internationale und die Fusion mit der Kommunistischen Partei. Damit war praktisch die Geschichte des tschechischen Anarchismus abgeschlossen, denn als Bewegung und ideologische Gemeinschaft präsentierte sie sich nach 1925 nicht mehr merklich. Max Nettlau führt als Zeugnis aus dem Jahre 1929 an, dass „die besten Älteren [Anarchisten] gestorben sind. Fast alle der jüngeren Elemente … sind in der kommunistische Partei, besonders die geistig Begabten… Von der einstmals blühenden syndikalistischen Bewegung in Nordböhmen ist keine Spur mehr vorhanden. Sie ist … vom Bolschewismus verschlungen worden …" (M. Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. V, S. 285.)

Die in New York/USA von tschechischen Anarchisten herausgegebene Zeitschrift "Volné Listy"

Zusammenfassung und Kritik

In der Geschichte der modernen tschechischen sozial-politischen Bewegung und Ideologie stellt der Anarchismus zwar eine relativ kurze, aber bedeutsame Periode der libertären Bewegung und Ideenentwicklung dar. Die jungen Generationen des Endes 19. und des Beginns des 20. Jahrhunderts waren durch den Einfluss des Anarchismus nachhaltig geprägt. Der tschechische Anarchismus bedeutete eine konkret historische Antwort auf die praktische sozial-politische und geistige Situation seiner Zeit. Man darf ihn nicht bloß als Ausdruck des Einflusses zeitbedingter gedanklicher Strömungen bewerten. Die Ideen uneingeschränkter Freiheit und Emanzipation des Individuums und der Gesellschaft fanden ihren Widerhall als Basis des damaligen Widerstandes gegen Unfreiheit und Reglementierung seitens der Staatsgewalt; dieser Widerstand paarte sich noch mit dem Widerstand gegen eine als fremd empfundene Macht. Diese Ideen fanden ihren Widerhall zugleich als Basis für den Widerstand gegen die Halbherzigkeit und Kompromissbereitschaft der damals herrschenden tschechischen Politik gegenüber Wien, aber auch gegen die verschiedensten Formen des selbstzufriedenen inhaltsleeren tschechischen Patriotismus und Nationalismus. Zugleich bildeten die freiheitlichen Ideen des tschechischen Anarchismus die Basis, von der auch die Ablehnung der praktischen Politik und der staatsozialistischen Orientierung der Sozialdemokratie ausging. Die Ideen des tschechischen Anarchismus bedeuteten für die jungen Generationen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert den Ausgangspunkt zur Proklamierung einer wahren Emanzipation, die durch die bisherigen politischen Praktiken nicht belastet wäre; die Idee der Freiheit für die ganze Gesellschaft, sei zugleich Respektierung der Freiheit eines jeden Individuum und bot eine attraktive Perspektive insbesondere für die literarische und künstlerische Generation. Die tschechische anarchosyndikalistische Bewegung stellte eine Basis dar, die sich nicht als Objekt der Politik irgendwelcher Partei fühlen musste, sondern sich unmittelbar als autark und autonom präsentieren und durchsetzen konnte. Daher fand sie schließlich ein so starkes Echo als Idee der neutralen Gewerkschaften, die nicht durch eine wie immer geartete politische Orientierung im voraus eine Zweckbestimmung erhalten hatten. Unter diesem Aspekt machte die Bewegung einen Kristallisationsprozess durch, bei dem sich trotz und teilweise sogar dank der heftigen Verfolgung die ideologische und praktische Basis des tschechischen Anarchismus (zunächst als unabhängiger Sozialismus) konstituierte. In der 90er Jahren entstand in diesem Milieu ein weiterer Nährboden für die Rezeption der Ideen des europäischen Anarchismus. An der Wende des 19. und 20. Jahrhunderts konnte sich die tschechische anarchistische Bewegung bereits mit einer verhältnismäßig regen Publikationsaktivität präsentieren, die mit organisatorischen Aktivitäten in anarchistischen und anarchosyndikalistischen Föderationen sowie mit Kontakten mit der europäischen anarchistischen Bewegung einherging. Die parallele Existenz zweier anarchistischer Föderationen war Ausdruck zweier komplementärer Formen der Bewegung: eine war auf ideologische, theoretische und philosophische Fragen des Anarchismus ausgerichtet, behandelte Fragen der Grundprinzipien und deren Propaganda; die andere, die von der anarchosyndikalistischen Basis ausging, war auf praktische Fragen und Bedürfnisse der Bewegung eingestellt. Beide bedeuteten in den Jahren vor dem 1. Weltkrieg das Prinzip des Widerstreits zwischen der Reinheit der anarchistischen Prinzipien, der Ideentreue einerseits und zwischen der Anpassung der Ideen an die praktischen aktuellen Erfordernisse der Bewegung andererseits. Dieser Widerstreit wurde zugunsten praktischer Gründe, auf Kosten anarchistischer Grundsätze, entschieden: Zunächst vor dem 1. Weltkrieg, wo er die Form einer Entscheidung hatte, die Bewegung als eigenständige politische Partei (Partei der tschechischen Anarchisten-Kommunisten) zu transformieren, nach dem Krieg sogar als Entscheidung, eine Basis für die bereits etwas revidierte Vorstellung in einer anderen, sozialistischen Partei, zu finden. Die illusorische Idee von den Notwendigkeiten der politischen Praxis auf Kosten der eigenen freiheitlichen Ideen und Prinzipien führte schließlich die Bewegung ideologisch wie praktisch zur kommunistischen Orientierung, d.h. eigentlich zur Verabschiedung vom Anarchismus. Diese Form der eigenen Revision anarchistischer Prinzipien führte nicht nur dazu, dass der tschechische Anarchismus in Selbstnegierung ausartete, sondern bedeute in ihren Konsequenzen auch eine Vereinfachung des linken politischen Spektrums, in dem künftighin eine Korrektur von links fehlte. Als dann in der Tschechoslowakei die Kontinuität des rechtsgerichteten politischen Spektrums durch die kommunistische Diktatur unterbrochen wurde, hatte der Kommunismus keine linke Alternative und konnte sich leichter als totalitäre Macht konstituieren.

Literatur und Quellen

Zeitschriften

  • Anarchistická revue (Die Anarchistische Revue), Řečkovice u Brna 1905;
  • Bezvládí (Die Anarchie), Prag 1905–1907, 1923;
  • Budoucnost (Die Zukunft), Chicago 1883–1886;
  • Červen (Juni), Prag 1918–1921;
  • Hornické listy (Blätter der Bergleute), Dux 1906–1915;
  • Komuna (Die Kommune), Prag 1907–1908;
  • Matice dělnická (Der Arbeiterverein), Wien, Pilsen 1896–1900;
  • Matice svobody (Der Freiheitsverein), Brünn 1900–1914;
  • Mladý průkopník (Der Junge Bahnbrecher), Prag 1912–1914;
  • Nová Omladina (Die Neue Jugend), Bruch-Prag 1906–1907;
  • Nový kult (Der Neue Kult), Prag 1897–1905;
  • Nový věk svobody (Des neue Zeitalter der Freiheit), Praha 1892–1895;
  • Omladina (Die Jugend), Prag 1891, Kladno 1892–1893, Prag 1898–1900, Bruch 1903–1906;
  • Práce (Die Arbeit), Prag 1905–1908;
  • Socialista (Der Sozialist), Prag 1923–1925;
  • Volné listy (Die freien Blätter), Prag 1897–1898;
  • Volný duch (Der freie Geist), Prag 1894–1896;
  • Zádruha (Die Gemeinschaft), Prag 1908–1914.

Quellen

  • F. Herman: Anarchisté a jejich učení (Die Anarchisten und deren Lehre), Prag 1900;
  • F. Jordán: Problémy rozkolu dělnického hnutí v českých zemích (Die Probleme der Spaltung der Arbeiterbewegung in den tschechischen Ländern), Prag 1965;
  • V. Körber: Ethický anarchismus (Der ethische Anarchismus), Prag 1895;
  • M. Nettlau: Geschichte der Anarchie, Bd. V., S. 277–278;
  • S. K. Neumann: Stati a projevy (Schriften und Äußerungen), I.–VI. Prag 1964, 1966, 1969, 1971, 1973, 1976;
  • Ders.: Vzpomínky (Erinnerungen), Prag 1948;
  • Staudacher: Sozialrevolutionäre und Anarchisten. Die andere Arbeiterbewegung vor Hainfeld, Wien 1988;
  • V. Tomek: Ideologie českého anarchismu (Die Ideologie des tschechischen Anarchismus), Prag 1988;
  • Ders.: Tschechischer Anarchismus um die Jahrhundertwende, in: Bochumer Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit, Nr. 12, S. 97–130;
  • Ders.: Freedom and Its Fate Among Czech Radicals, in: Cultural Heritage and Contemporary Change in Central and Eastern Europa, Washington 1993, S. 33–65;
  • Ders.: From the Idea of Freedom to Authoritarian Emancipation. Historic Experience of Czech Anarchism, in: Anarchism: Community and Utopia, Prag 1993, S. 227–272;
  • Ders.: Lide, otevři své oči! Črty o českém anarchismu / Volk! Öffne Deine Augen! Anarchismus in Tschechischen (zweisprachig), Wien 1995;
  • Ders.: Die Freiheit sehen wir in der Anarchie. Zum Manifest der tschechischen Anarchisten 1896 (Wien 1998; zweite Edition 2004);
  • Ders.: Český anarchismus 1890–1925 (Der tschechische Anarchismus 1890–1925), Prag 1996;
  • Ders.: Český anarchismus a jeho publicistika 1880–1925 (Der tschechische Anarchismus und seine Publizistik 1880–1925), Prag 2002;
  • Ders.: O českém anarchismu. Česká anarchistická periodika (Vom tschechischen Anarchismus. Die tschechischen anarchistischen Periodika), Praha 2003;
  • K. Vohryzek: Abeceda anarchismu (ABC des Anarchismus), Bruch 1900;
  • R. Wohlgemuthová: Příspěvek k dějinám českého anarchistického hnutí v letech 1900–1904 (Ein Beitrag zur Geschichte der tschechischen anarchistischen Bewegung in den Jahren 1900–1904), Prag 1971.

Autor: Václav Tomek

Quelle: Dieser Artikel erschien erstmals in: Lexikon der Anarchie: Encyclopaedia of Anarchy. Lexique de l'anarchie. - Hrsg. von Hans Jürgen Degen. - Bösdorf: Verlag Schwarzer Nachtschatten, 1993-1996 (5 Lieferungen). - Loseblattsammlung in 2 Ringbuchordnern (alph. sortiert, jeder Beitrag mit separater Paginierung). Für die vorliegende Ausgabe wurde er überarbeitet.

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