Heiner Michael Becker - Gedenkseite: Unterschied zwischen den Versionen
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− | Ich habe Heiner Becker Ende der 1970er / Anfang der 1980er Jahre kennengelernt. Meiner Erinnerung nach traf ich ihn das erste Mal auf einer der damaligen Gegenbuchmessen, die von der Arbeitsgemeinschaft alternativer Verlage und Autoren (AGAV) als eine Gegenveranstaltung zur kommerziellen Frankfurter Buchmesse seit 1978 einige Male in der Messestadt abgehalten wurde. Heiner unterstützte damals den Frankfurter Verlag „Die Freie Gesellschaft“ bei der Herausgabe der im Untertitel als „Internationale Anarchistische Vierteljahresschrift“ firmierenden Zeitschrift | + | Ich habe Heiner Becker Ende der 1970er / Anfang der 1980er Jahre kennengelernt. Meiner Erinnerung nach traf ich ihn das erste Mal auf einer der damaligen Gegenbuchmessen, die von der Arbeitsgemeinschaft alternativer Verlage und Autoren (AGAV) als eine Gegenveranstaltung zur kommerziellen Frankfurter Buchmesse seit 1978 einige Male in der Messestadt abgehalten wurde. Heiner unterstützte damals den Frankfurter Verlag „Die Freie Gesellschaft“ bei der Herausgabe der im Untertitel als „Internationale Anarchistische Vierteljahresschrift“ firmierenden Zeitschrift „[http://ur.dadaweb.de/dada-p/P0000750.shtml Galgenvogel]“. Ich erlebte Heiner damals als einen eher stillen, unaufdringlichen Menschen, der mich mit seinen fundierten Kenntnissen der Geschichte des internationalen Anarchismus stark beeindruckte. |
− | Heiner hatte ebenso wie ich in den 1970er Jahren enge Kontakte zur anarchistischen Bewegung in England, speziell in London, unterhalten. Die war – wie das für die anarchistische Bewegung nicht nur in England typisch war und ist – gespalten. In London teilte sich die anarchistische Szene in die Anhänger der Zeitschrift | + | Heiner hatte ebenso wie ich in den 1970er Jahren enge Kontakte zur anarchistischen Bewegung in England, speziell in London, unterhalten. Die war – wie das für die anarchistische Bewegung nicht nur in England typisch war und ist – gespalten. In London teilte sich die anarchistische Szene in die Anhänger der Zeitschrift „[http://freedomnews.org.uk/ Freedom]“ und in die Anhänger der Zeitschrift „Black Flag“. Während „Freedom“ einen eher pazifistisch-pragmatischen Anarchismus propagierte, vertrat „Black Flag“ einen revolutionären klassenkämpferischen Anarchismus. Heiner unterhielt eher engere Kontakte zur Freedom-Gruppe, während ich mich in der „Black Flag“-Gruppe (um Albert Meltzer, Stuart Christie und Miguel Garcia) engagierte, die über das von ihr gegründete Black Cross, einer internationalen anarchistischen Hilfsorganisation, anarchistische Gefangene auf der ganzen Welt unterstützte. Heiner und ich sind uns zu unserer Londoner Zeit nie über den Weg gelaufen, aber wir haben uns später immer wieder über unsere Zeit in London und unsere Kontakte zu den dortigen Repräsentanten und Aktivisten der anarchistischen Bewegung ausgetauscht. |
− | Intensiver habe ich Heiner Becker erst bei der Arbeit an meiner 1986 abgeschlossenen Magisterarbeit über den deutschsprachigen Anarchismus und seine Presse kennengelernt. Heiner Becker hatte sich zu dieser Zeit bereits einen Namen als einer der besten Kenner der für die Historiographie des Anarchismus wichtigen Archive und Bibliotheken gemacht, und ich habe von seinen Tipps und Empfehlungen bei meinen Recherchen zum Thema meiner Magisterarbeit außerordentlich profitiert. Wer Heiner von der Ernsthaftigkeit seines Forschungsprojektes überzeugen konnte, der fand in ihm einen stets hilfsbereiten Unterstützer. Und so finden sich in den seriösen Werken der neueren Anarchismusforschung immer wieder Danksagungen an Heiner Becker, so wie etwa die von Dittmar Dahlmann, der im Vorwort zu seinem 1986 erschienen Werk „Land und Freiheit. Machnovščina und Zapatismo als Beispiele agrarrevolutionärer Bewegungen“ schreibt: „Heiner M. Becker war eine nie versiegende Quelle für die Geschichte des Anarchismus und schwer zugängliches Material.“ | + | Intensiver habe ich Heiner Becker erst bei der Arbeit an meiner 1986 abgeschlossenen [http://ur.dadaweb.de/dada-l/L0000788.shtml Magisterarbeit über den deutschsprachigen Anarchismus und seine Presse] kennengelernt. Heiner Becker hatte sich zu dieser Zeit bereits einen Namen als einer der besten Kenner der für die Historiographie des Anarchismus wichtigen Archive und Bibliotheken gemacht, und ich habe von seinen Tipps und Empfehlungen bei meinen Recherchen zum Thema meiner Magisterarbeit außerordentlich profitiert. Wer Heiner von der Ernsthaftigkeit seines Forschungsprojektes überzeugen konnte, der fand in ihm einen stets hilfsbereiten Unterstützer. Und so finden sich in den seriösen Werken der neueren Anarchismusforschung immer wieder Danksagungen an Heiner Becker, so wie etwa die von Dittmar Dahlmann, der im Vorwort zu seinem 1986 erschienen Werk „Land und Freiheit. Machnovščina und Zapatismo als Beispiele agrarrevolutionärer Bewegungen“ schreibt: „Heiner M. Becker war eine nie versiegende Quelle für die Geschichte des Anarchismus und schwer zugängliches Material.“ |
[[Datei:978-3930819072_Nettlau_GdA_3.gif|thumb|right|300px|Der 3. Band der von Heiner M. Becker herausgegebenen und mit Einleitungen, Errata und Registern versehenen Neuausgabe der "Geschichte der Anarchie" von Max Nettlau.]] | [[Datei:978-3930819072_Nettlau_GdA_3.gif|thumb|right|300px|Der 3. Band der von Heiner M. Becker herausgegebenen und mit Einleitungen, Errata und Registern versehenen Neuausgabe der "Geschichte der Anarchie" von Max Nettlau.]] | ||
− | Wenn man es jemanden zugetraut hätte, das Erbe von Max Nettlau als das eines „Herodots“ des internationalen Anarchismus anzutreten, dann wäre es sicherlich Heiner Becker gewesen. Und in der Tat hat Heiner Becker vorgehabt, Nettlaus durch den II. Weltkrieg und sein Exil unterbrochene und nicht vollendete Forschungsarbeit durch Herausgabe der bislang unveröffentlicht gebliebenen Bände von Nettlaus | + | Wenn man es jemanden zugetraut hätte, das Erbe von Max Nettlau als das eines „Herodots“ des internationalen Anarchismus anzutreten, dann wäre es sicherlich Heiner Becker gewesen. Und in der Tat hat Heiner Becker vorgehabt, Nettlaus durch den II. Weltkrieg und sein Exil unterbrochene und nicht vollendete Forschungsarbeit durch Herausgabe der bislang unveröffentlicht gebliebenen Bände von Nettlaus „[[https://www.alibro.de/Philosophie/Theorie/Anarchismus-traditioneller/Geschichte-der-Anarchie-Bd-I-III::5120.html Geschichte der Anarchie]“ fortzusetzen, die von dem Autor insgesamt auf neun Bände angelegt gewesen ist, von denen zu seinen Lebzeiten erst drei Bände erschienen sind. Doch Heiners Tod hat dieses für die Historiographie des internationalen Anarchismus so wichtige Projekt nun vorerst und erneut scheitern lassen, und es ist zur Zeit auch niemand erkennbar, der über ein vergleichbar fundiertes Expertenwissen wie Heiner Becker verfügt, um die Herausgabe der Gesamtausgabe von Nettlaus „Geschichte der Anarchie“ neu aufzugreifen und zu einem erfolgreichen Ende zu bringen. |
− | Von 1987 bis 2012 hat Heiner Becker als Mitarbeiter das für die Historiographie des Anarchismus wichtige Internationale Institut für Sozialgeschichte (IISG) in Amsterdam unterstützt. So war er für einige Zeit Mitglied im Projektteam des Bakunin-Archivs und er katalogisierte mehrere Archivsammlungen. Gleichzeitig war er als Repräsentant des IISG in ganz Europa aktiv und half dem Institut bei der Erweiterung seiner Bestände, angefangen von den Aufzeichnungen der von Pjotr Kropotkin 1886 gegründeten Zeitschrift „Freedom“, über den Nachlass von Dora Russel bis hin zu dem Nachlass des 2013 gestorbenen ostdeutschen Historikers Andreas Graf, mit dem er bis zu dessen Tode befreundet gewesen ist und mit ihm zahlreiche Projekte – wie etwa die Fortsetzung der Herausgabe der renommierten historischen Fachzeitschrift „Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (IWK)“ - in Angriff genommen hat. | + | Von 1987 bis 2012 hat Heiner Becker als Mitarbeiter das für die Historiographie des Anarchismus wichtige [https://socialhistory.org/ Internationale Institut für Sozialgeschichte (IISG)] in Amsterdam unterstützt. So war er für einige Zeit Mitglied im Projektteam des Bakunin-Archivs und er katalogisierte mehrere Archivsammlungen. Gleichzeitig war er als Repräsentant des IISG in ganz Europa aktiv und half dem Institut bei der Erweiterung seiner Bestände, angefangen von den Aufzeichnungen der von Pjotr Kropotkin 1886 gegründeten Zeitschrift „Freedom“, über den Nachlass von Dora Russel bis hin zu dem Nachlass des 2013 gestorbenen ostdeutschen Historikers Andreas Graf, mit dem er bis zu dessen Tode befreundet gewesen ist und mit ihm zahlreiche Projekte – wie etwa die Fortsetzung der Herausgabe der renommierten historischen Fachzeitschrift „Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (IWK)“ - in Angriff genommen hat. |
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+ | Ich habe in den letzten zehn Jahren wieder einen intensiveren Kontakt zu Heiner Becker bekommen, nicht zuletzt auch, weil Heiner mit seinem Verlag „[https://www.alibro.de/Verlage/Bibliothek-Theleme:::363_403.html Bibliothek Thélème]“ ebenso wie ich mit meinem Libertad Verlag ähnliche Konflikte mit unsolidarischen Genossen erleben musste, die von unseren Buchtiteln Raubveröffentlichungen angefertigt und vertrieben haben. Solche unsolidarischen Aktionen gegenüber den der libertären Bewegung nahestehenden Verlagen haben sicher mit dazu beigetragen, dass Heiner Becker zum Ende seines Lebens nicht wenig Verbitterung gegenüber Teilen der anarchistischen Szene empfunden hat. Dass Heiner Becker Zeit seines Lebens zur Kooperation mit den libertären Verlagen bereit gewesen ist, das zeigen die zahlreichen Veröffentlichungen, die unter seiner Herausgeberschaft und mit seiner Unterstützung in den unterschiedlichsten Verlagen in Deutschland, England und Frankreich erschienen sind. | ||
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Heiner Becker und ich gehören derselben Generation an, also der unmittelbaren Nachkriegsgeneration, aus deren Kreisen und in den letzten Jahren bereits zahlreiche Freunde verlassen haben. Heiner hat nicht mit seinem baldigen Tod gerechnet, und auch von Ruhestand konnte bei ihm nicht die Rede sein. Bis zu seinem plötzlichen Tod am 4. April 2017 war er noch voller Zukunftspläne gewesen und hatte zahlreiche – ich denke: zu viele - Projekte parallel zu laufen gehabt. Heiner hätte 150 Jahre alt werden können, und es wären sicher nicht weniger Projekte geworden, die durch seinen Tod keinen Abschluss gefunden hätten. | Heiner Becker und ich gehören derselben Generation an, also der unmittelbaren Nachkriegsgeneration, aus deren Kreisen und in den letzten Jahren bereits zahlreiche Freunde verlassen haben. Heiner hat nicht mit seinem baldigen Tod gerechnet, und auch von Ruhestand konnte bei ihm nicht die Rede sein. Bis zu seinem plötzlichen Tod am 4. April 2017 war er noch voller Zukunftspläne gewesen und hatte zahlreiche – ich denke: zu viele - Projekte parallel zu laufen gehabt. Heiner hätte 150 Jahre alt werden können, und es wären sicher nicht weniger Projekte geworden, die durch seinen Tod keinen Abschluss gefunden hätten. | ||
Version vom 14. April 2017, 16:18 Uhr
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Heiner Michael Becker ist tot
Am 4. April 2017 ist unser Freund und Weggefährte Heiner Michael Becker, geb. am 15. Juli 1951, im Alter von 65 Jahren unerwartet an den Folgen einer Hirnblutung gestorben.
Heiner Michael Becker hat seit Ende der 1970er Jahre als Historiker, Sammler und Archivar sowie als Mitarbeiter des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte (IISG) in Amsterdam sich intensiv mit der Geschichte des internationalen Anarchismus und verwandter libertärer Bewegungen beschäftigt. Später hat er auch als Publizist und als Verleger des von ihm gegründeten und betriebenen Verlages "Bibliothek Thélème" zahlreiche Forschungs- und Publikationsvorhaben zur Historiographie des internationalen Anarchismus initiiert und unterstützt.
Sein Tod ist ein großer Verlust für die internationale Anarchismusforschung.
Wer seine Erinnerungen an Heiner M. Becker mit uns teilen möchte, kann sie auf der Diskussions-Seite veröffentlichen. Wir übernehmen dann die Texte hier auf die Heiner Michael Becker - Gedenkseite.
Falls jemand Probleme mit dem Schreiben auf der Diskussions-Seite haben sollte, der kann uns seinen Text und gerne auch Fotos zur Veröffentlichung auf der Gedenkseite per E-Mail schicken an: redaktion@dadaweb.de.
Jochen Schmück
Redaktion DadAWeb.de
Inhaltsverzeichnis
Reaktionen, Nachrufe und Erinnerungen
Heiner Becker (15.7.1951 – 4.4.2017). Von Jochen Knoblauch
Die Nachricht vom Tod Heiner Beckers kam überraschend, so, wie letzter Zeit sich solche Meldungen häufen. Die Reihen der Nachkriegskinder lichten sich.
Wenn in der libertären Szene die Rede auf Heiner Becker kommt, dann kommen ziemlich unterschiedliche Meinungen zu Tage. Die „Szene“, wer oder was immer das sein mag, spielt hier aus meiner subjektiven Sicht heraus, keine rühmliche Rolle. Schon aus dem Grund, weil Heiner der Szene nicht angehörte, er war Historiker, der sich mit Anarchismus und einigen seiner Protagonisten beschäftigte, aber in wie weit er sich selbst etwa als Anarchist bezeichnen würde, kann ich nicht sagen. Die Szene selbst hat sich dahingehend unrühmlich verhalten, dass sie den geringsten Nenner des Anarchismus – Respekt und einen menschlichen Umgang miteinander – nicht einzuhalten vermochte.
Ich selbst habe Heiner nicht gut gekannt. Wir haben uns zwei, drei Mal getroffen, ein paar Mal korrespondiert. Sein Ruf, ein enormes Wissen zu haben ging ihm Voraus. Seine Projekte waren vielfältig und meist recht umfangreich. Wie Akademiker eben manchmal so sind: mit einem hohen Anspruch an die Genauigkeit von Fakten und der Unbehagtheit bei Fällen wider der eigenen Erkenntnis. So hat Heiner das eine oder andere Projekt zum Erliegen gebracht, weil nach seiner Meinung etwa in einem Buch falsche Fakten genannt wurden. Auf der anderen Seite war es ihm aber auch nicht immer möglich, diese eben mal so zu belegen. Es war nicht immer so, dass Heiner mit Informationen hinter dem Berg hielt, vielmehr sah er seine Erkenntnisse nicht immer zur Genüge belegt und/oder abgesichert. Es war ihm zuwider Halbwahrheiten zu publizieren.
Während so einige GenossInnen ihn verfluchten, kann ich eigentlich nur Positives über ihn berichten. Er schenkte mir einiges an Material, wie etwa Originale von individual-anarchistischen Zeitschriften aus Frankreich aus dem 19. Jahrhundert, oder ein Plakat, oder eine Original-Graphik von Fermin Rocker, die seinen Vater Rudolf Rocker darstellte und als Beigabe der Vorzugsausgabe zu dessen Buch „East End: Eine Kindheit in London“ war, dass er 1993 in seinem eigenen Verlag Bibliothek Thélème herausbrachte und übersetzt hat. Und auch im „großen Streit“ um die Publikationsrechte etwa an den Schriften von Max Nettlau und Rudolf Rocker ging es Heiner weniger darum die absolute Kontrolle zu haben, als vielmehr – ganz einfach – gefragt zu werden. Ich hatte ihn gefragt, die Rocker-Broschüre über Heinrich Heine nachdrucken zu dürfen und es war absolut kein Problem für ihn (die erschien dann bei der edition anares in der Schweiz). Wenn andere hier Probleme hatten, dann wohl eher auf der Basis der Nichtkommunikation. Der Umgang war, für mich als Anarchisten, mitunter beschämend.
Heiner war ein Vermittler zwischen den großen europäischen Ländern England, Frankreich und Deutschland und dessen Erbe der anarchistischen Traditionen. Er selbst publizierte in drei Sprachen und hat sicherlich viel dazu beigetragen das Wissen zu vermehren. „Geld gemacht“ hat er damit sicherlich nicht. Und das betrifft sowohl seinen eigenen Verlag, der wohl eher ein Zuschussgeschäft war, als auch die die Verlage, in denen er publizierte, die selten Honorare zahlten. Heiner war niemand der sich bereichert hat, und schon gar nicht am anarchistischen Erbe (dies zeigt auch ein Blick auf seine Publikationsliste).
Ich jedenfalls werde Heiner Becker in guter Erinnerung behalten, und finde es schade, dass unser Austausch letztlich doch so beschränkt war. Uns nützen wenig die ganzen Online-Archive etc. wenn es keine Menschen mehr gibt, die auch darüber zu berichten wissen, die dies mit Enthusiasmus und Liebe erarbeitet haben. Danke Heiner.
Jochen Knoblauch,
Berlin, den 11.4.2017
Salut libertaire. De Jean-Jacques Gandini
Chers compagnes et compagnons, cher-e-s ami-e-s
J'apprends par Marianne Enckell, membre comme moi entre autres du collectif de la revue REFRACTIONS, le décès soudain d'Heiner que j'ai eu le plaisir de rencontrer il y a bien longtemps déjà de cela. C'est effectivement une perte pour le mouvement anarchiste international et je m'associe à la peine de ses proches.
Salut libertaire
Jean-Jacques GANDINI, 12.04.2017
In Memoriam Heiner Becker. Von Jochen Schmück
Ich habe Heiner Becker Ende der 1970er / Anfang der 1980er Jahre kennengelernt. Meiner Erinnerung nach traf ich ihn das erste Mal auf einer der damaligen Gegenbuchmessen, die von der Arbeitsgemeinschaft alternativer Verlage und Autoren (AGAV) als eine Gegenveranstaltung zur kommerziellen Frankfurter Buchmesse seit 1978 einige Male in der Messestadt abgehalten wurde. Heiner unterstützte damals den Frankfurter Verlag „Die Freie Gesellschaft“ bei der Herausgabe der im Untertitel als „Internationale Anarchistische Vierteljahresschrift“ firmierenden Zeitschrift „Galgenvogel“. Ich erlebte Heiner damals als einen eher stillen, unaufdringlichen Menschen, der mich mit seinen fundierten Kenntnissen der Geschichte des internationalen Anarchismus stark beeindruckte.
Heiner hatte ebenso wie ich in den 1970er Jahren enge Kontakte zur anarchistischen Bewegung in England, speziell in London, unterhalten. Die war – wie das für die anarchistische Bewegung nicht nur in England typisch war und ist – gespalten. In London teilte sich die anarchistische Szene in die Anhänger der Zeitschrift „Freedom“ und in die Anhänger der Zeitschrift „Black Flag“. Während „Freedom“ einen eher pazifistisch-pragmatischen Anarchismus propagierte, vertrat „Black Flag“ einen revolutionären klassenkämpferischen Anarchismus. Heiner unterhielt eher engere Kontakte zur Freedom-Gruppe, während ich mich in der „Black Flag“-Gruppe (um Albert Meltzer, Stuart Christie und Miguel Garcia) engagierte, die über das von ihr gegründete Black Cross, einer internationalen anarchistischen Hilfsorganisation, anarchistische Gefangene auf der ganzen Welt unterstützte. Heiner und ich sind uns zu unserer Londoner Zeit nie über den Weg gelaufen, aber wir haben uns später immer wieder über unsere Zeit in London und unsere Kontakte zu den dortigen Repräsentanten und Aktivisten der anarchistischen Bewegung ausgetauscht.
Intensiver habe ich Heiner Becker erst bei der Arbeit an meiner 1986 abgeschlossenen Magisterarbeit über den deutschsprachigen Anarchismus und seine Presse kennengelernt. Heiner Becker hatte sich zu dieser Zeit bereits einen Namen als einer der besten Kenner der für die Historiographie des Anarchismus wichtigen Archive und Bibliotheken gemacht, und ich habe von seinen Tipps und Empfehlungen bei meinen Recherchen zum Thema meiner Magisterarbeit außerordentlich profitiert. Wer Heiner von der Ernsthaftigkeit seines Forschungsprojektes überzeugen konnte, der fand in ihm einen stets hilfsbereiten Unterstützer. Und so finden sich in den seriösen Werken der neueren Anarchismusforschung immer wieder Danksagungen an Heiner Becker, so wie etwa die von Dittmar Dahlmann, der im Vorwort zu seinem 1986 erschienen Werk „Land und Freiheit. Machnovščina und Zapatismo als Beispiele agrarrevolutionärer Bewegungen“ schreibt: „Heiner M. Becker war eine nie versiegende Quelle für die Geschichte des Anarchismus und schwer zugängliches Material.“
Wenn man es jemanden zugetraut hätte, das Erbe von Max Nettlau als das eines „Herodots“ des internationalen Anarchismus anzutreten, dann wäre es sicherlich Heiner Becker gewesen. Und in der Tat hat Heiner Becker vorgehabt, Nettlaus durch den II. Weltkrieg und sein Exil unterbrochene und nicht vollendete Forschungsarbeit durch Herausgabe der bislang unveröffentlicht gebliebenen Bände von Nettlaus „[Geschichte der Anarchie“ fortzusetzen, die von dem Autor insgesamt auf neun Bände angelegt gewesen ist, von denen zu seinen Lebzeiten erst drei Bände erschienen sind. Doch Heiners Tod hat dieses für die Historiographie des internationalen Anarchismus so wichtige Projekt nun vorerst und erneut scheitern lassen, und es ist zur Zeit auch niemand erkennbar, der über ein vergleichbar fundiertes Expertenwissen wie Heiner Becker verfügt, um die Herausgabe der Gesamtausgabe von Nettlaus „Geschichte der Anarchie“ neu aufzugreifen und zu einem erfolgreichen Ende zu bringen.
Von 1987 bis 2012 hat Heiner Becker als Mitarbeiter das für die Historiographie des Anarchismus wichtige Internationale Institut für Sozialgeschichte (IISG) in Amsterdam unterstützt. So war er für einige Zeit Mitglied im Projektteam des Bakunin-Archivs und er katalogisierte mehrere Archivsammlungen. Gleichzeitig war er als Repräsentant des IISG in ganz Europa aktiv und half dem Institut bei der Erweiterung seiner Bestände, angefangen von den Aufzeichnungen der von Pjotr Kropotkin 1886 gegründeten Zeitschrift „Freedom“, über den Nachlass von Dora Russel bis hin zu dem Nachlass des 2013 gestorbenen ostdeutschen Historikers Andreas Graf, mit dem er bis zu dessen Tode befreundet gewesen ist und mit ihm zahlreiche Projekte – wie etwa die Fortsetzung der Herausgabe der renommierten historischen Fachzeitschrift „Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (IWK)“ - in Angriff genommen hat.
Ich habe in den letzten zehn Jahren wieder einen intensiveren Kontakt zu Heiner Becker bekommen, nicht zuletzt auch, weil Heiner mit seinem Verlag „Bibliothek Thélème“ ebenso wie ich mit meinem Libertad Verlag ähnliche Konflikte mit unsolidarischen Genossen erleben musste, die von unseren Buchtiteln Raubveröffentlichungen angefertigt und vertrieben haben. Solche unsolidarischen Aktionen gegenüber den der libertären Bewegung nahestehenden Verlagen haben sicher mit dazu beigetragen, dass Heiner Becker zum Ende seines Lebens nicht wenig Verbitterung gegenüber Teilen der anarchistischen Szene empfunden hat. Dass Heiner Becker Zeit seines Lebens zur Kooperation mit den libertären Verlagen bereit gewesen ist, das zeigen die zahlreichen Veröffentlichungen, die unter seiner Herausgeberschaft und mit seiner Unterstützung in den unterschiedlichsten Verlagen in Deutschland, England und Frankreich erschienen sind.
Heiner Becker und ich gehören derselben Generation an, also der unmittelbaren Nachkriegsgeneration, aus deren Kreisen und in den letzten Jahren bereits zahlreiche Freunde verlassen haben. Heiner hat nicht mit seinem baldigen Tod gerechnet, und auch von Ruhestand konnte bei ihm nicht die Rede sein. Bis zu seinem plötzlichen Tod am 4. April 2017 war er noch voller Zukunftspläne gewesen und hatte zahlreiche – ich denke: zu viele - Projekte parallel zu laufen gehabt. Heiner hätte 150 Jahre alt werden können, und es wären sicher nicht weniger Projekte geworden, die durch seinen Tod keinen Abschluss gefunden hätten.
In unserem letzten Telefonat vor ein paar Monaten haben wir uns über unser gemeinsames Projekt der Neuausgabe von „About Anarchism“ (deutsch: „Betrifft Anarchismus“) von Nicolas Walter ausgetauscht und vereinbart, das Buch im Herbst dieses Jahres zu veröffentlichen. Heiner war ein enger Freund von Nicolas Walter gewesen, und deshalb war ich froh über seine Unterstützung des Projektes. Ich werde nun dieses Buchprojekt ohne Heiner realisieren müssen, aber ich widme ihm das Buch und dem Andenken an einen der exponiertesten Historiker des internationalen Anarchismus, den die Nachkriegszeit in Europa hervorgebracht hat.
Heiner, Du wirst mir fehlen – als Ratgeber, Gesprächspartner und Freund!
Jochen Schmück,
Potsdam,, den 14. April 2017
Veröffentlichungen
Monographien
- Kropotkin, Peter / Kropotkin, Pëtr Alekseevič: Act for Yourselves. Articles from Freedom 1886-1907. Editied by Nicolas Walter and Heiner Becker. London: Freedom Press, 1998, 131 pages.
- Kropotkin, Peter A. / Kropotkin, Pëtr Alekseevič: Memoiren eines Revolutionärs. Neue Übersetzung aus dem Englischen, herausgegeben von Heiner Becker und Nicolas Walter, mit Einleitung, Anmerkungen und ausgewähltem Personenregister versehen. Münster: UNRAST-Verlag, 2001 (= Klassiker der Sozialrevolte; 4-5), 2 Bände, Bd. 1: 248 Seiten, Bd. 2: 304 Seiten.
- Kropotkine, Pierre / Kropotkin, Pëtr Alekseevič: La grande révolution 1789-1793. Suivi de Lettres de Pierre Kropotkine à James Guillaume sur les terres communales (juin-juillet 1911). Introduction de Heiner Becker. Paris: Editions du Monde Libertaire, 1989. 471 pages.
- [Most, Johann] Johann Most - ein unterschätzter Sozialdemokrat? Herausgegeben von Heiner M. Becker und Andreas G. Graf. Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (IWK), Heft 1-2/2005. Münster: Bibliothek Thélème, 2005.
- Most, John [Johann]: Marxereien, Eseleien und der sanfte Heinrich. Artikel aus der "Freiheit". Herausgegeben und mit einer Einleitung und Anmerkungen versehen von Heiner M. Becker. Wetzlar: Büchse der Pandora, 1985. 196 Seiten.
- Most, Johann: Die freie Gesellschaft. Die Internationale Bibliothek und Texte aus der Freiheit zum Kommunistischen Anarchismus. Herausgegeben von Heiner M. Becker. Mit Einleitung, Anmerkungen und ausgewähltem Personenregister versehen. Münster: UNRAST-Verlag, 2006 (= Klassiker der Sozialrevolte; 13). 264 Seiten.
- Most, Johann: Anarchismus in einer Nussschale. Herausgegeben von Heiner Becker. Unrast Verlag Münster 2006, (= Klassiker der Sozialrevolte; 14) 263 Seiten.
- Nettlau, Max: Geschichte der Anarchie. Von Max Nettlau. Herausgegeben, mit Einleitungen, Errata und Registern versehen von Heiner M. Becker
- Band I - Der Vorfrühling der Anarchie. Ihre historische Entwicklung von den Anfängen bis 1864. Von Max Nettlau. Herausgegeben und mit Einleitung, Errata und Index versehen von Heiner M. Becker. Münster: Bibliothek Thélème, 1993 (erw. Reprint der Ausgabe Berlin 1925). XXXII, 284 Seiten, 10 Illustrationen.
- Band II - Der Anarchismus von Proudhon zu Kropotkin. Seine historische Entwicklung in den Jahren 1859-1880. Von Max Nettlau. Herausgegeben und mit Einleitung, Errata und Index versehen von Heiner M. Becker. Münster: Bibliothek Thélème, 1993 (erw. Reprint der Ausgabe Berlin 1927). XXIV, 328 Seiten, 10 Illustrationen.
- Band III - Anarchisten und Sozialrevolutionäre. Die historische Entwicklung des Anarchismus in den Jahren 1880-1886. Von Max Nettlau. Herausgegeben und mit Einleitung, Errata und Index versehen von Heiner M. Becker. Münster: Bibliothek Thélème, 1993 (erw. Reprint der Ausgabe Berlin 1931). XXXVI, 431 Seiten, 12 Illustrationen.
- Nettlau, Max: A Short History of Anarchism. Edited by Heiner Becker. London: Freedom Press, 1996.
- Nettlau, Max: Eugenik der Anarchie. Herausgegeben von Heiner Becker, Einleitung von Rudolf de Jong. Wetzlar: Verlag Büchse der Pandora, 1985 (= Texte zu Geschichte und Theorie des Anarchismus). 208 Seiten.
- Rocker, Fermin: East End: Eine Kindheit in London. – Herausgegeben und aus dem Englischen übersetzt von Heiner Becker. - Münster; Wetzlar: Bibliothek Thélème, 1993. - 192 Seiten u. Illustrationen.
- Rocker, Rudolf: Nationalismus und Kultur (Korrigierte und ergänzte Neuausgabe des zuerst 1949 unter dem Titel „Die Entscheidung des Abendlandes“ erschienenen Werkes). Herausgegeben und mit einem Nachwort und einer Bibliographie von Heiner M. Becker. Münster: Bibliothek Thélème, 1999, 672 Seiten u. Illustrationen.
Einzelbeiträge / Aufsätze
- Heiner M. Becker: Bakunin und die Brüder Reclus. In: Bakunin Almanach, Band 1. Herausgegeben von Bernd Kramer und Wolfgang Eckhardt. Berlin: Karin Kramer Verlag, 2007, S. 128-139.
- Heiner M. Becker, "Die Deutschen, die können doch nur lamentieren ..." ; Anmerkungen zu ein paar undeutschen Taten und deutschen Handelnden, In: Kein Nachruf! Beiträge über und für Götz Langkau, Ursula Balzer (Red.), Amsterdam: IISG, 2003, S. 89-97.
- Heiner M. Becker, Erich Mühsam (1878-1934), in: Deutsche Schriftsteller im Porträt, Band 5: Jahrhundertwende, herausgegeben von Hans-Otto Hügel, München: C.H.Beck, 1983 (Beck’sche Schwarze Reihe, Bd. 265), S. 160-161.
- Heiner M. Becker: Gustav Landauer und die internationale anarchistische Bewegung. In: "... die beste Sensation ist das Ewige ..." / Theatermuseum der Landeshauptstadt Düsseldorf, Dumont-Lindemann-Archiv. Herausgegegen von Michael Matzigkeit. - Düsseldorf, 1995. - (Dokumente zur Theatergeschichte; 9). - S. 107-112.
- Heiner M. Becker: Johann Most. In: Johann Most - ein unterschätzter Sozialdemokrat? Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (IWK), Heft 1-2/2005. Münster: Bibliothek Thélème, S. 5-66.
- Heiner M. Becker, Johann Joseph Most (1846-1906), in: Deutsche Schriftsteller im Porträt, Band 5: Jahrhundertwende, herausgegeben von Hans-Otto Hügel, München: C.H.Beck, 1983 (Beck’sche Schwarze Reihe, Bd. 265), S. 158-159.
- Heiner M. Becker: Johann Most - Bibliographie der Primär- und Sekundärliteratur. Eine Auswahl. Zusammengestellt und bearb. von Heiner Becker und Jochen Schmück. In: Rudolf Rocker: Johann Most. Das Leben eines Rebellen. Berlin: Libertad 1994 (= Archiv für Sozial- und Kulturgeschichte; 6). - S. 483-492.
- Heiner M. Becker: Johann Most. Eine kleine Bibliographie. In: in: Johann Most - ein unterschätzter Sozialdemokrat? Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (IWK), Heft 1-2/2005. Münster: Bibliothek Thélème, S. 255-308.
- Heiner Becker, Johann Most in Europe, in: The Raven. Anarchist Quarterly, London (Freedom Press), Vol. I, no. 4 (1988), p. 291-321.
- Heiner M. Becker: Johann Neve (1844-1896). - In: The Raven. Anarchist Quarterly, London (Freedom Press), Vol. I, No. 2, August 1987, p. 99-114 (div. Abb.).
- Heiner Becker, Kropotkin as Historian of the French Revolution, in: The Raven. Anarchist Quarterly, London (Freedom Press), Vol. II, no. 3 (1989), p. 225-231.
- Heiner Becker, Max Nettlau 1865-1944, in: Freedom (London), 47 (1986), no. 9 (centenary edition), p. 16-17.
- Heiner Becker, Notes on “Freedom” and the Freedom Press, in: The Raven. Anarchist Quarterly, London (Freedom Press), Vol. I, no. 1 (1987), p. 4-24.
- Heiner M. Becker: The Mystery of Dr. Nathan-Ganz. - In: The Raven. Anarchist Quarterly, London (Freedom Press), Vol. II, No. 2, Okt. 1988, p. 118-145 (div. Abb.).
- Heiner M. Becker: Peter Andreevitsch Arschinoff (1887-1937) u. Auswahlbibliographie (Bio-bibliographischen Beitrag). In: Arschinoff, Peter A: Die Geschichte der Machno-Bewegung. Münster: Unrast; 2009 (= Klassiker der Sozialrevolte; Bd. 1), S. 265ff.
- Heiner M. Becker, Boycott, Sabotage, Ca’canny, in: Arbeit und Müßiggang 1789 bis 1914. Dokumente und Analysen. Herausgegeben von Wolfgang Asholt und Walter Fähnders, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1991, S. 219-234.
- Heiner M. Becker: Rudolf Rocker im Exil. In: Anarchismus im Umkreis Erich Mühsams / [Red.: Jürgen-Wolfgang Goette ...]. - Lübeck, 1995. - (= Schriften der Erich-Mühsam-Gesellschaft; 7). - S. 43-62.
- Piet Wielsma, Heiner Becker: HOUT, Isaac Salomon van der, in: Biografisch woordenboek van het socialisme en de arbeidersbeweging in Nederland, II, Amsterdam: IISG, 1987, S. 68–70.