Oppenheimer, Franz: Unterschied zwischen den Versionen
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Lexikon der Anarchie: Personen
Franz Oppenheimer, geb. 30. März 1864 Berlin/Deutschland; gest.: 30. September 1943 Los Angeles/USA.
Inhaltsverzeichnis
Äußere Daten
Oppenheimer, bedeutender Ökonom, Soziologe und Wirtschaftshistoriker, kam als Sohn eines Rabbiners der jüdischen Reformgemeinde in Berlin zur Welt. Das Elternhaus - noch stark geprägt vom Revolutionsjahr 1848 - galt als ausgesprochen liberal und zudem als „antimammonistisch". [1] Die nach seinem Medizinstudium aufgenommene mehrjährige Arzttätigkeit in den Berliner Elendsvierteln und im Osten Preußens lenkte Oppenheimers Augenmerk bald auf soziale Fragestellungen. Zahlreiche Kontakte zu den Mitgliedern des „Ethischen Clubs", in dem vorwiegend die Berliner Boheme verkehrte (u. a. Erich Mühsam, John Henry Mackay, Bruno Wille), erschlossen ihm den Sozialismus. Oppenheimer trat allerdings nicht der Sozialdemokratie bei; seine Bezugsgruppe blieben die 1891 aus der SPD ausgeschlossenen „Anarchosozialisten". [2]
In seiner weiteren Auseinandersetzung mit der sozialen Frage begann Oppenheimer ein eigenes Theoriegebäude zu entwerfen, das er auf ein breites Fundament zu stellen versuchte: Das Spektrum der von ihm zitierten Werke reicht von einer revidierten Version der Marxschen Mehrwertlehre über Pierre-Joseph Proudhon Genossenschaftskonzept bis zu Theodor Hertzkas Freilandsystem. Seinen zentralen Angriffspunkt sieht Oppenheimer in der - durch das Großgrundeigentum verursachten - „Bodensperre", die für ihn die Ursache aller sozialen Defekte darstellt. Oppenheimers agrarreformerischer Denkansatz führte ihn zu seinem bekannten Vorschlag der „inneren Kolonisation", d.h. Abschaffung des Privateigentums an Grund und Boden sowie Aufteilung des Großgrundbesitzes an Arbeiterproduktionsgenossenschaften.
Nach Beendigung seiner Arztpraxis verlegte sich Oppenheimer auf den publizistischen Sektor. Es entstand eine Fülle an Schriften, die Oppenheimer zu seinem Ruf als Fachmann in Siedlungsfragen verhalf. Aus seinen Anregungen in der Berliner Freilandgruppe resultierten einige wesentliche Projekte, z. B. die Baugenossenschaft „Freie Scholle". Auch der sich erst formierenden zionistischen Bewegung trat Oppenheimer als Berater zur Seite.
Zur Vertiefung seines theoretischen Wissens begann Oppenheimer noch als 34jähriger das Studium der Nationalökonomie. Seine Habilitation im Jahre 1909 brachte ihm eine Anstellung als Dozent an der Universität Berlin.
Knapp vor Ausbruch des 1. Weltkrieges unternahm Oppenheimer eine Reise in die USA. Dort traf er u. a. auch mit Vertretern der „Industrial Workers of the World" (IWW) zusammen. Die Zeit des Weltkrieges verbrachte Oppenheimer in einer öffentlichen Position im deutschen Versorgungswesen.
1919 erfolgte die Berufung Oppenheimers an den Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Frankfurt. Auch hier fand er eine treue Anhängerschaft: „So ging, wer kritisch war, zu Oppenheimer". [3]Im Jahr 1929 emeritierte Oppenheimer.
Die in Deutschland hereinbrechende NS-Herrschaft bedeutete für Oppenheimer eine erhebliche Gefahr. Erst wurden ihm seine Ruhebezüge aberkannt, dann begann man seine Druckwerke einzustampfen. Nur seine internationale Reputation als Wissenschaftler rettete ihn einige Zeit vor dem direkten Zugriff der Nazi-Schergen. Jedoch 1938 - nach der Reichskristallnacht - war auch Oppenheimer gezwungen, Deutschland rasch zu verlassen. Über Japan und China gelangte er schließlich in die USA, wo er sich nochmals zu etablieren suchte. Im Herbst 1941 gründete er die renommierte Fachzeitschrift „The American Journal of Economics and Sociology". Trotz angeschlagener Gesundheit sowie extrem ungünstiger wirtschaftlicher Bedingungen blieb Oppenheimer bis zu seinem Tode als Wissenschaftler voll aktiv.
Das System des liberalen Sozialismus: Die Wurzeln der Theorie Oppenheimers
Das ausgehende 19. Jahrhundert war reich an Theorien, die sich mit der sozialen Frage auseinandersetzten. Entsprechend facettenreich gestalten sich auch die Grundlagen von Theorie und Programm Oppenheimers: Das Denken Oppenheimers ist unverkennbar von Naturrecht und Aufklärung geprägt. Als geistiger Anknüpfungspunkt gilt die Geschichtsphilosophie Claude Saint-Simons; in wirtschaftstheoretischer Hinsicht beruft sich Oppenheimer auf die Physiokraten ebenso, wie auf die klassischen Ökonomen; bei letzteren besonders auf Karl Marx, ohne jedoch dessen industriezentrischen Standpunkt einzunehmen. Seine programmatischen Vorschläge bezieht Oppenheimer aus den Bodenreformideen sowie der Genossenschaftslehre.
Der Theorieansatz Oppenheimers
Den Kern der Ausführungen Oppenheimers bildet eine agrozentrische Mehrwerttheorie: Durch die Institution des Privateigentums an Grund und Boden werde eine Bodensperre und damit ein Bodenmonopol erzeugt. „Während von Natur aus genug Boden vorhanden sei, um jedem, der danach verlangte, die zu selbständiger Existenz nötige Bodenfläche zur Verfügung zu stellen, sei es infolge der Bodensperre unmöglich, eine solche Bodenfläche zu bekommen. Deshalb müssten die Arbeiter in einen Arbeitsvertrag einwilligen, der sie zur Errichtung eines Monopoltributs zwinge, den die Kapitalistenklasse als Profit (= Mehrwert) einstreiche. Dies geschehe zuerst bei dem Arbeitsvertrag zwischen agrarischen Kapitalisten und dem Landproletarier. Da sich aber infolge der Wanderung vom Lande in die Industriebezirke das Lohnniveau zwischen den beiden Produktionszweigen auszugleichen strebe, werde auch der industrielle Lohn zu einem solchen ‚Monopollohn’ herabgedrückt, und der industrielle Kapitalist beziehe so in gleicher Weise Profit wie der agrarische." [4] Aus dieser Betrachtungsweise leitet Oppenheimer seine Folgerungen ab: Mit der Abschaffung des Grundeigentums auf evolutionärem, sozialreformerischen Wege - mit der Schaffung von Siedlungsgenossenschaften auf sog. Freiland - werde das Überangebot auf dem Arbeitsmarkt nachlassen, im freien Wettbewerb komme damit der Mehrwert unter den Arbeitern zur Verteilung, d. h. das soziale Elend würde endlich beseitigt.
Die Sozialexperimente
Oppenheimer beschäftigte sich auch praktisch mit dem Konzept der Siedlungsgenossenschaft, in dem er den archimedischen Punkt zur endgültigen Überwindung des Kapitalismus erblickt zu haben glaubte. Die Liste der durchwegs beachtlichen Experimente Oppenheimers muss hier unvollständig bleiben: Bereits 1893 beteiligte sich Oppenheimer tatkräftig am Gründungsprozess der Obstbaukommune Eden bei Oranienburg/Berlin. 1905 folgte die Gründung einer Kolonie bei Eisenach - ein Unternehmen, das wegen der schlechten Bodenbeschaffenheit relativ bald aufgegeben werden musste. Erfolgreicher gestaltete sich hingegen das Projekt der Siedlungsgenossenschaft Bärenklau bei Veiten in der Mark. Oppenheimer übte großen Einfluss auf die zionistische Bewegung aus, in deren Konstituierungsphase er leitender Volkswirt war. Am 6. Zionistenkongress 1903 in Basel wurde eine Palästinakommission eingerichtet, die „die Möglichkeit einer systematisch durchgeführten Großkolonisation nach dem Plane von Oppenheimer zu untersuchen hatte." [5] Kurze Zeit später begann der jüdische Nationalfond in Palästina Land zu erwerben. Viele der damals entstandenen Kibbuzims und Moshavims erfreuen sich bis dato eines lebendigen Daseins. Im Jahre 1910 reiste Oppenheimer selbst nach Palästina, um die Gründung des Kibbuz Merchawina vorzubereiten. Oppenheimer zog sich allerdings schon 1913 aus der zionistischen Bewegung zurück. Er, der immer für ein „brüderliches Verhältnis zu den Arabern" eingetreten war, musste seine diesbezüglichen Hoffnungen sehr bald dahinschwinden sehen.[6] Im übrigen fanden Oppenheimers Ideen im Spektrum politischer Splittergruppen noch eine gewisse Resonanz. Besonders erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang der „Internationale Sozialistische Kampfbund“ (ISK), der sein wirtschaftliches Programm getreu den Richtlinien Oppenheimers ausrichtete. Der ISK, der aus einer Absplitterung der SPD hervorgegangen war, spielte seine bedeutendste Rolle im Widerstand gegen das NS-Regime. Ablehnung hingegen fanden Oppenheimers Theorien innerhalb der Sozialdemokratie; hier sowohl bei den orthodoxen Marxisten als auch bei der revisionistischen Strömung.
Stellenwert Oppenheimers innerhalb des libertären Spektrums
Eine eigene Oppenheimer-Schule besteht gegenwärtig nicht. Heute berufen sich sowohl Kritiker als auch Befürworter der sog. „Marktwirtschaft" auf ihn. In der zeitgenössischen Wirtschaftswissenschaft wird der theoretische Ansatz Oppenheimers nicht selten als fragwürdig und anachronistisch dargestellt. Jedoch gilt, dass sein agrozentrischer Ausgangspunkt für fast alle Länder der 3. Welt noch immer wertvolle Anregungen bietet. Auch in der Ökologiediskussion könnten Oppenheimers Vorstellungen hinsichtlich der „Bewahrung des Bodens" noch eine wesentliche Rolle spielen. Die besondere Bedeutung Oppenheimers liegt darin, dass er - bei Anerkennung der Summe seiner theoretischen und praktischen Beiträge - als der erfolgreichste Impulsgeber zur Verwirklichung des Gedankens wirtschaftlicher Selbsthilfe betrachtet werden kann. Viele Elemente seiner Weltanschauung rücken Oppenheimer in die unmittelbare Nähe der libertären Bewegung; so etwa sein Menschenbild: „Der Mensch ist nicht gut und nicht böse, er folgt dem Gesetz des geringsten Widerstandes. Je nachdem die Verhältnisse sind, benimmt er sich anständig oder unanständig; Macht wird immer missbraucht: Darum soll man nicht versuchen, die Menschen zu verbessern, sondern soll die Verhältnisse ändern, soll die Macht ausrotten.“ [7] Im gegebenen Zusammenhang erscheint auch Oppenheimers Staatstheorie hervorhebenswert, die er seiner ökonomischen Theorie vorausschickt: Der Staat, entstanden aus Eroberung, gegründet auf Gewalt, sei das politische Mittel, das dem Sieger erlaube, den Besiegten auszubeuten. Der Staat existiert bei Oppenheimer also nicht nur als der Hüter des Gesetzes, er sieht ihn auch als den ursprünglichen Hüter der Sklaverei und des Monopols. Sein kompromissloser Föderalismus macht Oppenheimer zu einem wichtigen Wegbereiter einer freien Gesellschaft. Er sah diese Gesellschaft - genau wie die libertären Sozialisten - als genossenschaftliche Gesellschaft, als Gegenbild des Staates, den er als Machtinstrument erkannte.
Literatur und Quellen
- Alle wesentlichen Schriften Oppenheimers finden sich gesammelt in seinem 9-bändigen Werk „System der Soziologie" (Jena 1922 - 1935).
- P. Brunner: Herr Oppenheimer, der marxistische Bourgeois, in: Der Kampf 6, Wien 1.8.1913, Nr. 11, S. 499-506.
- J. Heller: Geschichte des Zionismus, Berlin 1935.
- W. Link: Geschichte des Internationalen Jugend-Bundes (IJB)und des Internationalen Sozialistischen Kampf-Bundes (ISK), Meisenheim 1964.
- U. Linse: Zurück, o Mensch zur Mutter Erde. Landkommunen in Deutschland 1890 - 1933, München 1983.
- A. Loewe: Politische Ökonomie, Königstein 1984.
- F. Oppenheimer: Theorie der reinen und politischen Ökonomie, Berlin/ Leipzig 1919.
- Ders.: Weder Kapitalismus noch Kommunismus, Jena 1932.
- Ders.: Der Staat, Berlin 1990.
- Ders.: Erlebtes, Erstrebtes, Erreichtes. Lebenserinnerungen, Düsseldorf 1964.
- E. Preiser: Politische Ökonomie im 20. Jahrhundert. Probleme und Gestalten, München 1970.
- G. Senft: Aufbruch in das gelobte Land. Die Ursprünge der Kibbuz-Wirtschaft, Edition Wilde Mischung, Band 15, Verlag Monte Verita, Wien 1997.
- A. Souchy: Reisen durch die Kibbuzim, Reutlingen 1984.
- K. Werner: Oppenheimers System der liberalen Sozialismus, Jena 1928.
- R. Wiggershaus: Die Frankfurter Schule. Geschichte, theoretische Entwicklung, politische Bedeutung, München 1989.
- L. U. Zimmermann: Geschichte der theoretischen Volkswirtschaftslehre, Köln 1954.
Autor: Gerhard Senft
Anmerkungen
Quelle: Dieser Artikel erschien erstmals in: Lexikon der Anarchie: Encyclopaedia of Anarchy. Lexique de l'anarchie. - Hrsg. von Hans Jürgen Degen. - Bösdorf: Verlag Schwarzer Nachtschatten, 1993-1996 (5 Lieferungen). - Loseblattsammlung in 2 Ringbuchordnern (alph. sortiert, jeder Beitrag mit separater Paginierung). Für die vorliegende Ausgabe wurde er überarbeitet.
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