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Lexikon der Anarchie: Personen
Carl Einstein, geb.: 26. April 1885, Neuwied/Rhein; gest.: 5. Juli 1940, Boeil-Bézing (Basses-Pyrénées / Frankreich) durch Selbstmord. Libertärer Schriftsteller und Kunstkritiker.
Inhaltsverzeichnis
Äußere Daten
Einsteins Vater, Daniel Einstein, war ab 1888 bis zu seinem Tod 1899 Direktor des Israelitischen Landesstifts in Karlsruhe sowie Sekretär des Großherzoglichen Oberrats der Israeliten Badens. Davor war er als Lehrer, Prediger und Kantor u.a. in Offenbach, Hamburg und Neuwied tätig. Die Einsteins gehörten zum angesehenen jüdisch-liberalen Bürgertum Karlsruhes. Einstein besucht das Großherzogliche Gymnasium, fliegt von der Schule und holt 1904 sein Abitur am Großherzoglich Badischen Gymnasium in Bruchsal nach.
Einstein zieht nach Berlin, immatrikuliert sich ab 1904 für Philosophie, Kunstgeschichte, Geschichte und Altphilologie, und muss sich seinen Lebensunterhalt nebenher selbst verdienen. Er schreibt erste Aufsätze. 1906 freundet er sich mit Ludwig Rubiner an und beginnt die Arbeit am Roman „Bebuquin“ als realisiertem Programm einer ‚absoluten Prosa’. 1907 erscheint die erste Veröffentlichung „Herr Giorgio Bebuquin“ in der Zeitschrift „Die Opale“, weitere Aufsätze folgen in „Hyperion“, „Die Gegenwart“ und „März“, darunter auch kunsttheoretische und kunstkritische.
Einstein bewegt sich unter Berliner Linksintellektuellen, begegnet dort u.a. Erich Mühsam und Gustav Landauer, schließt sich jedoch keiner bestimmten politischen Richtung verbindlich an. Etwa ab 1907 unternimmt er häufig Paris-Fahrten, wo er u.a. Georges Braque, Pablo Picasso, Juan Gris, Moïse Kisling und Blaise Cendrars kennenlernt und sich mit Kubismus sowie afrikanischer Plastik beschäftigt.
Um 1909 schließt er Bekanntschaft mit Franz Pfemfert, an dessen neugegründeter Zeitschrift „Die Aktion“ er ab 1912 regelmäßig mitarbeitet. F. Pfemfert verbindet darin programmatisch Expressionismus mit Gesellschaftskritik von links. 1912 erscheint im Verlag Die Aktion Einsteins Roman „Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders“. 1913 heiratet Einstein die russische Übersetzerin Maria Ramm. 1914 kommt die Tochter Nina zur Welt. Einstein wird 1914 Soldat im I. Weltkrieg. 1916 erfolgt seine Versetzung aus dem Elsaß nach Belgien.
1915 wird sein berühmt gewordenes Buch „Negerplastik“ veröffentlicht, das afrikanische Plastik erstmals als Kunst würdigt.
Um 1916 unterhält Einstein Kontakte zu pazifistischen und dadaistischen Kreisen in Brüssel. Während der Novemberrevolution 1918/19 übernimmt er im Brüsseler Arbeiter- und Soldatenrat (ASR) die Schlüsselfunktion als diplomatischer Vertreter des Vollzugsausschusses des Soldatenrats in den Verhandlungen mit neutralen Gesandten und den belgischen Behörden. Außerdem koordiniert er den Pressedienst des ASR. In den darauffolgenden Monaten kämpft er auf Seiten der Spartakisten im Zeitungsviertel von Berlin, und wird am 15. l. 1919 erstmals durch Regierungstruppen verhaftet, wieder freigelassen, nimmt an Kongressen und Versammlungen teil, hält Vorträge und Reden (u.a. bei der Beisetzung Rosa Luxemburgs und vor dem Räte-Bund), reist zu diesem Zweck sogar nach Nürnberg und wird auf der Zugfahrt am 14. Juni 1919 erneut verhaftet. Im Verhör gibt er an, Mitglied der Kommunistischen Partei Berlin-Charlottenburgs und dort kommunaler Arbeiterrat zu sein. Er wird aus Bayern abgeschoben und muss in Berlin zeitweilig untertauchen.
Einstein hat enge Verbindung zum Malik-Kreis: Er arbeitet an Wieland Herzfeldes Zeitschrift „Die Pleite“ mit, und gibt, zusammen mit George Grosz, das satirische dadaistische Blatt „Der blutige Ernst“ heraus.
Im Juli 1921 wird Einsteins Theaterstück „Die schlimme Botschaft“ publiziert, woraufhin im März 1922 ein ultrarechtes, antisemitisches Spektrum einen spektakulären Gotteslästerungsprozess gegen ihn anstrengt. Er und sein Verleger Rowohlt werden zu einer Geldstrafe verurteilt. Um dieselbe Zeit konzentriert sich Einstein publizistisch vorwiegend auf Kunsttheorie als Form der Kultur- und Gesellschaftskritik. Er schreibt u.a. für den „Querschnitt“ und „Das Kunstblatt“. Selbst politisch aktiv ist er nicht mehr, liest jedoch in dieser Periode Georg W. F. Hegel, Karl Marx, Wladimir I. Lenin, Leo Trotzki, Michail Bakunin und Carl v. Clausewitz. Auch vom rätekommunistisch orientierten F. Pfemfert-Umfeld hat er sich zurückgezogen. Dabei spielt auch seine Scheidung von M. Ramm eine Rolle.
1925 veröffentlichen Paul Westheim und er den „Europa-Almanach“, eine Anthologie von Texten und Illustrationen der europäischen Avantgarde. Der Propyläen-Band „Die Kunst des 20. Jahrhunderts“ von 1926 bringt Einstein schließlich internationales Ansehen als Kunstkritiker und -theoretiker. 1928 zieht er nach Paris, da das zunehmend reaktionäre politisch-kulturelle Klima in Deutschland ihm unerträglich ist und er ernsthaften Widerstand gegen das Erstarken der Nazis vermisst.
Rasch und problemlos integriert er sich in die französische Intellektuellenszene und fungiert als eine interkulturelle Schlüsselfigur. Ergibt ab 1929 „Documents“ heraus und ist Mitarbeiter der „Transition“. Er genießt hohes Ansehen in Frankreich, vor allem als Kunsthistoriker und -kritiker. Von den profaschistischen Futuristen distanziert er sich, ebenso von reaktionären Surrealisten wie Salvador Dalí.
Ab 1931, als Folge der nun auch in Frankreich spürbaren Weltwirtschaftskrise, gerät Einstein in massive finanzielle Schwierigkeiten. 1932 heiratet Einstein die armenische Perserin Lyda Guévrékian. 1933 wird aus der kulturellen Emigration das erzwungene Exil: Einstein steht auf den Fahndungslisten der Nazis und wird ausgebürgert. Ab 1933 entstehen Aufzeichnungen, die er „Die Fabrikation der Fiktionen“ betitelt, und die eine scharfe Intellektuellenattacke darstellen. Er unterhält lose Kontakte zu kommunistischen Exilkreisen. Auf Oktober 1935 datiert ein Vortrag über „Kunst als kollektiver Gebrauchsgegenstand“ beim Schutzverband deutscher Schriftsteller in Paris.
Bei Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs begibt sich Einstein sofort nach Barcelona, trifft dort auf Helmut Rüdiger und die „Deutschen Anarcho-Syndikalisten“ (DAS), worauf er sich begeistert der anarchistischen „Kolonne Durruti“ anschließt. Dabei kommt er mit führenden AnarchistInnen, darunter Buenaventura Durruti und Emma Goldman, in Kontakt. Seine Frau arbeitet als Freiwillige in einem CNT-Krankenhaus. Lange Zeit kämpft er an der Aragonfront und erleidet zahlreiche Verwundungen. In den Verletzungspausen entwirft er politische Projekte, Reden, Beiträge, Interviews. Darin verteidigt er das unhierarchische Milizsystem gegenüber der strafforganisierten Volksarmee, attackiert die unterlassene Hilfeleistung der westeuropäischen Staaten für die Spanische Republik sowie die an Bedingungen geknüpften Waffenlieferungen der Sowjetunion. Anlässlich der Beerdigung Durrutis hält Einstein eine öffentliche Gedenkrede. Zunehmend frustriert über die ihm zu defensive CNT-Politik und aus Furcht vor der zunehmenden Gefahr der militärischen Niederlage der Republik, scheinen seine letzten Bemühungen in Spanien darauf abzuzielen, politisch ungebundene, linksorientierte Einzelpersonen zu einer „Offensive des Geistes“ gegen die drohende Ausbreitung des Faschismus in Europa zusammenzubringen und zu mobilisieren, da ihm ein militärischer Sieg nicht weit genug greift. Er bleibt bis zur Niederlage der Republik in Spanien und gelangt Anfang 1939 mit der letzten großen Flüchtlingswelle nach Frankreich. Die nächste Station für Einstein ist das Internierungslager für Spanienkämpfer in Argelès. Danach lebt er, völlig auf die Unterstützung von Freunden angewiesen, in Paris, hilft seinerseits dort aber anderen Spanienflüchtlingen. Ausreiseversuche nach Großbritannien oder in die USA scheitern daran, dass er keinen Pass mehr besitzt. Aufgrund eines weiteren französischen Internierungserlasses gegen „feindliche Ausländer“ wird er im Mai 1940 erneut in ein Lager deportiert, beim Anrücken deutscher Truppen im Juni jedoch entlassen. In den Pyrenäen ohne Hoffnung umherirrend, stirbt er am 5. Juli 1940 durch Selbstmord. Sein Grab befindet sich in Boeil-Bézing (Pau).
Politische Entwicklung
Einstein wird schon früh von der Aufbruchsstimmung seiner Generation erfasst, deren Opposition gegen das wilhelminische Bürgertum zwar zielgerichtet, aber dennoch inhaltlich vage ist. Aus ihr geht insbesondere die expressionistische Strömung hervor, deren antibürgerliche und antistaatliche Haltung sich in der künstlerischen Revolte ausdrückt. Dem schließt Einstein sich an. Er kritisiert die zunehmende Verdinglichung sowie die Unterordnung des Menschen unter materialistische Zwänge. Ebenso wendet er sich gegen den Absolutheitsanspruch wissenschaftlicher Rationalität, da ihm zufolge die naturwissenschaftliche Erkenntnis zu beschränkt agiert und wichtige Bereiche ausblendet.
Gleichzeitig setzt er sich für die Verbindlichkeit ethischer Werte wie „Gemeinschaft“, „Freiheit“, „Brüderlichkeit“ gegenüber dem Liberalismus mit seinen Prinzipien der egoistischen Selbstbezogenheit, der Konkurrenz und des Besitzstrebens ein. „Revolte“ wird in diesem Zusammenhang zu einem seiner Schlüsselbegriffe und meint eher eine antikonformistische Denk- und Existenzform von Einzelpersonen als einen kollektiven politisch-militärischen Aufstand. Persönlich revoltiert Einstein, indem er sich u.a. früh der Familie entzieht, sich einer angebotenen Banklehre verweigert, statt dessen lieber unter ungesicherten finanziellen Verhältnissen studiert und die Existenz als „freier“ Schriftsteller einer gesicherten Karriere vorzieht.
Bis zu Beginn des I. Weltkriegs erhofft sich Einstein, dass diese Umgestaltung von Werten insbesondere in den von ihm als epochenübergreifend und sinnstiftend definierten Bereichen Ästhetik, Religion und Philosophie verwirklicht werden und gesamtgesellschaftliche Gültigkeit erlangen könne, wobei die realen politischen und ökonomischen Verhältnisse weitgehend ausgeblendet bleiben. Erkennbar sind zu jenem Zeitpunkt seine erkenntnistheoretische Orientierungen an Immanuel Kant, Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche und G. F. W. Hegel, die zu seiner Konzeption der notwendigen Schaffung überzeitlicher, „absoluter“ humanistischer Werte führt; eine Sichtweise, zu der erst später eine dialektisch fundierte Geschichtstheorie mit soziologischen und psychologischen Ansätzen hinzukommt.
Sein politisches Verständnis ist jedoch noch nicht so weit entwickelt, dass sich die ästhetische Revolte auch politisch gegen den preußischen Militarismus richtet: Einstein zieht sogar freiwillig in den Krieg, in der Erwartung einer gründlichen Zerschlagung der bisherigen, als heuchlerisch und dekadent angesehenen Ordnung. Er wird zwar rasch zum Kriegsgegner, jedoch nicht zum Pazifisten: das blutige Vorgehen von Militär und Polizei unter der sozialdemokratischen Ebert-Regierung 1918/19 gegen die aufständischen ArbeiterInnen überzeugt ihn von der Notwendigkeit der bewaffneten Selbstverteidigung der Arbeiterbewegung. Diese Erfahrung trägt außerdem zu seiner heftigen Distanzierung von der Sozialdemokratie bei, die er als herrschaftsstabilisierend und konterrevolutionär betrachtet. Ein wichtiger Auslösefaktor seiner politischen Bewusstseinsbildung ist der I. Weltkrieg. Er bewirkt bei Einstein nicht nur die künftige Ablehnung nationalistischer Politik, sondern auch die Sensibilisierung für die Auswirkungen imperialistischer Kolonialpolitik, aus der sich bei ihm eine Kritik an deren weltweitem zerstörerischen Einfluss sowie ein Internationalismusverständnis entwickelt, das sich nun auch in der Solidarität mit den Kolonialvölkern äußert.
Ein weiterer Faktor betrifft die Novemberrevolution 1918/19. Darin setzt sich Einstein erstmals aktiv für die sozial Unterprivilegierten ein; erstmals riskiert er dabei bewusst den Tod für seine politische Überzeugung. Und während er in seinen früheren Schriften noch „die Armen“ als die Träger einer zukünftigen Revolution sah – ganz im Sinne E. Mühsams, der seine Hoffnung anfangs auf das Lumpenproletariat setzte –, sind es nun die politisch bewussten und organisierten ArbeiterInnen. Seinen Intellektuellenstatus schätzt Einstein stets als relativ unbedeutend ein, keineswegs jedenfalls als avantgardistisch.
Diese politische Umorientierung Einsteins von latent anarchistischen Ansätzen zur Befürwortung einer rätekommunistischen Diktatur des Proletariats und zur KPD-Mitgliedschaft kurz nach ihrer Gründung hängt zweifellos mit der starken Anziehungskraft der russischen Oktoberrevolution zusammen, gerade weil diese mit dem Anspruch angetreten war, nicht nur einen politisch-ökonomischen Wandel herbeizuführen, sondern auch den „neuen Menschen“ und neue kulturelle Werte hervorzubringen. Die Solidarisierung mit der Sowjetunion und den dortigen kreativen, revolutionären Künstlerinnen und Intellektuellen ist zunächst auch für Einstein selbstverständlich. Diese Sympathie nimmt ab, als sich die KP in Deutschland parlamentarisiert und Einstein in der Sowjetunion Entwicklungen verfolgt, die seinen Idealen widersprechen: er moniert Personenkult, staatliche Bevormundung, Parteidogmatismus mit starrer Hierarchieausbildung, bürokratische Willkür, Repressalien gegen russische Freunde, die Übernahme der darwinistisch fundierten Evolutionsideologie in Wissenschaft und Technik, die Aufwertung des Klassizismus bei gleichzeitiger Diffamierung innovativer Ansätze in Kunst und Literatur, die Reduzierung auf ökonomischen Wandel statt tiefgreifender kultureller Veränderungen. Letztlich ist es fast nur noch die kollektive Tatkraft, die ihn trotz aller Kritik immer wieder positiv beeindruckt, sowie seine Einschätzung, dass dieses System auf lange Sicht historisch überlebensfähiger sein würde als der liberalistische Spätkapitalismus. Nach dem Scheitern der Novemberrevolution zieht sich Einstein wieder aus der aktiven Politik zurück. Die Auseinandersetzung mit Themen wie Ideologie- und Sprachkritik in Kunst und Literatur prägen seine weiteren Jahre. Dazu kommen Versuche zu einer Umschreibung der eurozentrierten Kunstgeschichte. Einsteins Interesse gilt noch stets dem „größeren Ganzen“, den sozialen Zusammenhängen, in die sich Individuen einordnen. Dies ist für ihn im Kunstbereich beispielsweise die große Anzahl anonym gebliebener KünstlerInnen, die – wie er kritisiert – in keiner Geschichtsschreibung auftauchen, ja überhaupt problematisiert werden.
In der „Fabrikation der Fiktionen“, geschrieben im Exil in Paris ab 1933 unter dem Schock der massiven Repressionswelle der Nazis in Deutschland, attackiert er die politische Unverbindlichkeit, Pseudoradikalität, den Narzissmus und das Ignorieren der eigenen faktischen Wirkungslosigkeit in Deutschland als verhängnisvolle Fehler der Intellektuellen. Doch auch die Hoffnung auf eine von den Massen durchgeführte soziale Revolution mit bewusstseinsveränderndem, nicht nur ökonomischem Charakter in näherer Zukunft, ist hierin zu Finden.
Dass Einsteins undogmatischer Linksradikalismus mehr Parallelen zum libertären Kommunismus aufweist als zum orthodox-marxistischen, zeigt sich insbesondere 1936 in Barcelona, als Einstein die Zielsetzung und Verankerung der anarchosyndikalistischen Bewegung wahrnimmt und darin das politische Phänomen erkennt, das er immer gesucht hat. Denn bei der anarchistischen Bohème hatte er zuvor ebenfalls nur „kleinbürgerlichen Individualismus“ und soziale Isolation diagnostiziert; zudem erschien ihm der Pazifismus vieler ihrer ExponentInnen vor dem Hintergrund der von den Nazis ausgehenden Kriegsgefahr in Europa zu realitätsblind.
Im katalanischen Spanien begegnete ihm erstmals eine spontan und unhierarchisch agierende Volksbewegung, die sich nicht nur mutig mit der Waffe zur Wehr setzte, sondern darüber hinaus eine umfassende soziale, politische und wirtschaftliche Revolution von unten durchführte. Mit großer Euphorie, von der H. Rüdiger berichtet, schließt sich Einstein den AnarchosyndikalistInnen an und ist für sie in vielerlei Hinsicht tätig, wofür er sämtliche Kompetenzen zur Verfügung stellt: militärisch, publizistisch, strategisch beratend. Dann scheint eine Mischung aus Enttäuschung über die Zurückdrängung der anarchistischen Bewegung, einer nicht eingehaltenen Zusage für eine Publikation seinerseits sowie persönlichen Differenzen Einsteins Rückzug aus dem Kreis um H. Rüdiger bewirkt zu haben. Es scheint jedoch kein definitiver Bruch gewesen zu sein.
In seinem letzten Brief aus Spanien vom 6. Januar 1939 an P. Picasso schreibt Einstein, dass sein Kampf an der Seite der spanischen Bevölkerung für ihn vermutlich „die schönste Erinnerung seines Lebens“ sein werde und betont voller Bewunderung noch einmal insbesondere den spontanen militanten Widerstand der spanischen ArbeiterInnen gegen die Franco-Truppen, die Selbstdisziplin, Aufrichtigkeit, Würde und Aufopferung seiner Milizkameraden, den erreichten sozialen Fortschritt wie Alphabetisierung und Arbeiterbildung; und nicht zuletzt, dass der bewaffnete Widerstand der Arbeiterbewegung in Spanien auch ein zutiefst solidarischer Akt mit all den anderen europäischen Ländern sei, die ebenfalls von faschistischer Eroberung bedroht seien und dies nicht realisierten. Angesichts der totalitären Regimes verteidige er in Spanien auch die Möglichkeit individueller Autonomie und Denkfreiheit, die jedoch keinesfalls gegen die Gemeinschaft gerichtet sei, sondern im Gegenteil ihr zugute kommen wolle. In der Endphase des Krieges äußert Einstein in einem Zeitungsinterview auch Zustimmung zu Juan Negríns Politik, da die Alternative des faschistischen Terrors in ganz Europa ihn wohl in dieser konkreten politischen Lage nur noch auf den sowjetischen Beistand für die spanische Republik setzen lässt.
Die tiefgehende Verzweiflung Einsteins nach der Niederlage der spanischen Republik und dem Zusammenbruch aller seiner damit verbundenen politischen Hoffnungen, sowie die Aussichtslosigkeit, den vorrückenden deutschen Besatzungstruppen und der Gestapo zu entkommen, lassen ihn 1940 schließlich nur noch einen Ausweg sehen: die Selbsttötung.
Stellenwert Einsteins innerhalb des libertären Spektrums
Obwohl von Einstein nicht behauptet werden kann, dass er über Jahre hinweg ein zuverlässiger Anhänger einer bestimmten linken Gruppierung oder Partei gewesen sei, sind in seinen Aufzeichnungen dennoch insgesamt größere ideologische Übereinstimmungen mit anarchistischen als mit anderen Prinzipien festzustellen. Um nur einige zu nennen, betrifft dies z.B. die wichtige Rolle, die Kultur, Erziehung und Bildung zugestanden wird, oder die Anerkennung der individuellen Freiheit, die bei ihm autonomes, verantwortliches Handeln und Selbstdisziplin bei gleichzeitiger Solidarität mit der Gemeinschaft umfasst, und nicht zuletzt die Forderung nach einem dialektischen Verhältnis von „direkter Aktion“ und theoretischer Reflexion.
Einstein kann als linksradikaler Einzelgängerbetrachtet werden, der sich zu gegebenen Anlässen in soziale und politische Kämpfe einschaltete und sich dann darin auch exponierte. Darin lag seine Stärke: in brisanten politischen Augenblicken mit seinem vielfältigen Spektrum an Kompetenzen präsent zu sein und nützliche Funktionen zu übernehmen, an denen es mangelte. Dazu zählte seine Fähigkeit, politischen Gegnern gegenüber mit rigoroser Autorität und diplomatischem Geschick aufzutreten. Dies wandte er für den ASR 1918 in Brüssel an, als er den Offizieren mit selbstsicherer Arroganz und dem ihnen geläufigen Befehlshabergestus die revolutionären Anordnungen verkündete, die sie prompt befolgten. Für ihn waren diese Szenen Beispiele von Realsatire, in denen er den deutschen Untertanengeist seines Gegenübers austestete.
Seine Eigenschaften wie Eloquenz, Belesenheit, sein interdisziplinäres Wissen, die Sprachkenntnisse sowie sein politischer Scharfsinn erwiesen sich als wichtige Pluspunkte in diffizilen politischen Situationen. Unter solchen Umständen hat E. ein öffentliches Auftreten mit kompromisslos klaren Stellungnahmen, die durchaus eine eigene Gefährdung zur Folge hatten, nie gescheut. Dies trifft auf die Novemberrevolution ebenso zu wie auf sein offen proanarchistisches Engagement im Spanienkrieg. Dort hatte er in seine Gedenkrede anlässlich der Beerdigung Durrutis eine vehemente Verteidigung der unhierarchisch strukturierten Milizen eingebaut, als deren Diskreditierung besonders im prokommunistischen Lager bereits weitverbreitet war. In einer weiteren publizistischen Stellungnahme, „Die Front von Aragon“, griff Einstein außer der Entsolidarisierung der westeuropäischen Staaten auch die konditionierte Hilfe und antirevolutionäre Haltung der Sowjetunion in ihrer Spanienpolitik scharf an.
Mit Aktionen wie diesen schuf Einstein – unter bewusster Ausnutzung seiner Prominenz – Öffentlichkeit und Sympathie für CNT/ FAI-Positionen und Zielsetzungen. Den CNT-Milizen stellte er nicht nur seine physische Kampfkraft zur Verfügung, sondern auch sein militärstrategisches Wissen aus dem I. Weltkrieg, so dass er schon bald zu Beratungen hinzugezogen und ihm die militärische Verantwortung für einen Frontabschnitt an der Aragon-Front übertragen wurde. E. nutzte seine leitende Position jedoch nicht für Privilegien aus, sondern bestand darauf, als Gleicher unter Gleichen behandelt zu werden. Zudem war es für Einstein selbstverständlich, seine Kenntnisse an andere weiterzugeben. So erhielt er schnell und bereitwillig diverse Leitungsfunktionen, ohne sich um diese bemüht zu haben.
Auf theoretischem Gebiet bestand Einsteins Beitrag innerhalb des anarchistischen Spektrums in Spanien zunächst im Hinweis auf die Funktion Spaniens als Generalprobe für die weiteren Kriegspläne der Nazis, besonders aber im Insistieren auf der Bedeutung der offensiven geistigen Konfrontation mit der NS-Ideologie, die eine Immunisierung der Bevölkerung gegenüber faschistischem Gedankengut bezwecken sollte. Davon abgesehen betonte Einstein weiterhin die emanzipatorische Funktion von Kunst und Literatur in einer freien Gesellschaft. Durch die in Spanien geäußerte Überzeugung, dass diese Bereiche in Zeiten des politischen Umbruchs zugunsten einer aktiven politischen Teilnahme durchaus auch einmal ihre Priorität verlieren könnten, unterschied sich Einstein von vielen anderen Intellektuellen, die eine eigene Zuständigkeit in den Kämpfen ihrer Zeit ablehnten und sich, davon unbeeindruckt, weiterhin ihrer literarischen und künstlerischen Tätigkeit widmeten, was durchaus auch ein aktuelles Problem darstellt.
Die enge Verknüpfung von Leben und Werk macht Einstein zu einer exemplarischen Persönlichkeit, deren Integrität, Mut und Konsequenz außerordentlich war und die es verdient, auch im libertären Spektrum erinnert zu werden.
Autorin: Marianne Kröger
Literatur und Quellen:
- Bebuquin oder Die Dilettanten des Wunders, Berlin 1912 (Neuausg.: Bebuquin, hg. v. E. Kleinschmidt, Stuttgart 1985)
- Negerplastik, Leipzig 1915 (Repr.: Berlin 1992)
- Die Revolution in Brüssel, Berlin o. J. [1918; anonym]
- Der blutige Ernst (Hg. zus. m. G. Grosz), H. 3-6, Berlin 1919
- „Dr. Breitscheid und das Rätesystem.“ In: Rätezeitung. Organ der Kopf- und Handarbeiterräte, l. Jg., H. 6, Berlin 23. 4. 1919, S. 4
- Die schlimme Botschaft, Berlin 1921
- Die Kunst des 20. Jahrhunderts, Berlin 1926, 19282, 19313
- Documents (Hg. zus. m. G. Bataille u.a.), Paris 1929-1931
- Georges Braque. Paris/London/New York 1934
- „Schweißfuß klagt gegen Pfurz in trüber Nacht“, in: Front, H. 1, Den Haag 1930 (Neuausg. hg. v. W. Huder, Berlin 1971)
- Die Fabrikation der Fiktionen, hg. v. S. Penkert, Hamburg 1973
- „Die Kolonne Durruti“. in: Buenaventura Durruti, hg. v. H. Rüdiger im Deutschen Informationsdienst der CNT-FAI, Barcelona 1936, S. 13-17 (auch in: Die soziale Revolution, Barcelona, H. 3, Jan. 1937, S. 3 f.; A. und D. Prudhommeaux: Bewaffnung des Volkes, Berlin 1974 [Übers, aus dem Frz.: La Catalogne Libertaire, Cahiers Spartacus, Paris o. J.], S. 10-13; zuletzt in: A. Paz: Durruti, Hamburg 1994, S. 653-656)
- „Die Front von Aragon“, in: Die soziale Revolution, Barcelona, H. 12, Sondernummer zum 1. Mai 1937, S. l f. (auch in: A. und D. Prudhommeaux: Bewaffnung des Volkes, Berlin 1974, S. 14-19; zuletzt in: C. Einstein: Sterben des Komis Meyers, hg. v. R.-P. Baacke, München 1993, S. 155-160)
- S. Gasch: „Einige sensationelle Erklärungen von Carl Einstein“ (Interv. in Meridià, 6. 5. 1938), übers, u. komm. v. R. Görling, in: Bochumer Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit, H. 8, 1987, S. 72-74
- „Carl Einstein erläutert den Mehrfrontenkrieg und die Kriegspläne des Nazifaschismus“ (Interv. in La Vanguardia, 24. Mai 1938), Übers, v. M. Kröger, in: Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit, H. 12, 1992, S. 93-96
- C. Einstein: Werke, Band 1: 1908-1918, hg. v. R.-P. Baacke, Berlin 1980; Band 2: 1919 - 1928, hg. v. M. Schmid, Berlin 1981; Band 3: 1929-1940, hg. v. M. Schmid u. L. Meffre, Wien/Berlin 1985; Band 4: Texte aus dem Nachlass I, hg. v. H. Haarmann u. K. Siebenhaar, Berlin 1992;
- C. Einstein: Sterben des Komis Meyers. Prosa und Schriften, hg. v. R.-P. Baacke, München 1993.
- (Zu Einsteins Zeitschriftenbeiträgen vgl. Text + Kritik: Carl Einstein. Heft 95, 1987, S. 90 ff.).
Sekundärliteratur (Auswahl)
- R.-P. Baacke, (Hg.): Carl Einstein: Materialien Band l. Zwischen Bebuquin und Negerplastik, Berlin 1990
- D. Heißerer: „Einsteins Verhaftung. Materialien zum Scheitern eines revolutionären Programms in Berlin und Bayern 1919“, in: Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit, H. 12, 1992, S. 41-73
- K. H. Kiefer: Avantgarde-Weltkrieg-Exil/Materialien zu Carl Einstein und Salomo Friedlaender/Mynona, Frankfurt a. M./Bern/New York 1986
- K. H. Kiefer: Carl-Einstein-Kolloquium 1986, Frankfurt/M. u. a. 1988
- K. H. Kiefer: „Carl Einstein im Brüsseler Soldatenrat“, in: Bildende Kunst, hg. v. Verband bildender Künstler der DDR, 1989, H. 8, S. 53-58
- K. H. Kiefer: Diskurswandel im Werk Carl Einsteins, Tübingen 1994
- M. Kröger: „Carl Einstein und die ‚Grupo Internacional’ der Kolonne Durruti“, in: Carl-Einstein-Kolloquium 1986, hg. v. K. H. Kiefer, a. a. O., S. 261-271
- M. Kröger: „Carl Einstein im Spanischen Bürgerkrieg: Gratwanderungen zwischen Engagement und Desillusionierung. Die Jahre 1937 und 1938 anhand von Briefen und des Interviews in ,La Vanguardia' vom 24. Mai 1938“, in: Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit, H. 12, 1992. S.79-92
- L. Meffre: Carl Einstein: Ethnologie de l'art moderne, Marseille 1993
- L. Meffre: Carl Einstein – Daniel-Henry Kahnweiler. Correspondance 1921-1939, Marseille 1993
- S. Penkert: Carl Einstein. Beiträge zu einer Monographie, Göttingen 1969
- R. Rumold: „Carl Einstein und Buenaventura Durruti – die Poesie und die Grammatik des Anarchismus – Spanien 1936“, in: J. Held (Hg.): Der Spanische Bürgerkrieg und die Bildenden Künste, Hamburg 1989, S. 41-52
- Text + Kritik: Carl Einstein. Heft 95, 1987
Quelle: Dieser Artikel erschien erstmals in: Lexikon der Anarchie: Encyclopaedia of Anarchy. Lexique de l'anarchie. - Hrsg. von Hans Jürgen Degen. - Bösdorf: Verlag Schwarzer Nachtschatten, 1993-1996 (5 Lieferungen). - Loseblattsammlung in 2 Ringbuchordnern (alph. sortiert, jeder Beitrag mit separater Paginierung). Für die vorliegende Ausgabe wurde er überarbeitet.
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